Stadtschreiberin Dortmund 2024

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Ab Mai 2024 ist Chrizzi Heinen Stadtschreiberin in Dortmund.
Texte, die sie während ihrer Residenz verfasst - und womöglich auch Audiodateien - werden auf dieser Seite dokumentiert.
Der aktuellste Beitrag steht jeweils oben.


Mittwoch, 18. Juli 2024, Stadionbad

An wärmeren Nachmittagen gehe ich ins Stadionbad. Hier wie auch im Südbad werden die Nachwehen der EM spürbar, auf Nebenbahnen schwimmen Menschen, die britisches Englisch miteinander reden, mit starkem Akzent, wahrscheinlich Nordengland. Pärchen, die vor ein paar Wochen nach Doitschland kamen, in der Hoffnung auf … Urlaubsplläne schmiedeten sie dafür Anfang des Jahres:

„Let's just book a vacation in Germany, some weeks in Dortmund, perhaps. When we are lucke, we can see the final game.“

Und nun, einige Tage nach dem Finalspiel, folgen lange böse Tage, an denen sie den herben Verlust zu verarbeiten und die restlichen Urlaubstage in Dortmund zu verbringen haben. Auf der Nebenbahn höre ich diesen oder einen ähnlichen Dialog mit:

„What a sunny day, hu, when it's rainy, we go to the Südbad in the centre of the city...“
„Hang on, isn't the Südbad the one quite close to that pub called The Londoner on Hohe Straße/Sonnenstraße?“
„Yes, where we were all peeing on the wall to the S-Bahn and it was smelling so bad for days and it took two rainy nights to wash the human liquid off the the buildings.“
„Yes, that was nice. But i feel so empty now! Especially when i think about this beer lunch in that pub and the following night!“
„Me too, let us just swim another lane, to forget about our emptiness.“
„We'll have to wait four more years to get our empty hearts filled with big fat leather balls.“
„What? I don't want to have a ball in my heart! It's too big, it might hurt.“
„But I do, shut up and keep on swimming, the lifeguards are already watching us standing here in water like useless buoys.“
They keep on swimming and talking.
„But the others must feel empty, too! The Germans, the Italians, the orange people...“
„Of course, they do, the Germans always feel empty, but they haven't fallen so deep as we have.“
„And they learned to be happy. Happiness in Germany, the concept of fun and satisfaction seems to be a big thing in Germany right now. Hahaha. Even the Deutsche Bahn tries to be funny and entertaining.“
„Haha, the Germans! Haha!“
He swallows water while laughing and reaches the other side of the lane.
„But laughing about the Germans doesn't help, I still feel empty inside.“ „Keep on swimming!“

So oder so ähnlich die Unterhaltungen der englischen Fußballtouris im Schwimmbad ein paar Tage nach der EM-Finale.

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Am Tag vor dem Spiel (Niederlande gegen England) war es sehr heiß, das Stadionbad platzte aus allen Nähten, schwimmen konnte man in dem geräumigen Becken trotzdem noch ganz gut.
Stadionbad im Juli, klick hier zum Hören:

Samstag, 13.07.2024. Restaurantbesuch Maayas Express – Rheinische Straße

Den Flur zur Eingangstür teilt sich das kleine Restaurant mit einem Kiosk, der in seinem Schaufenster neben Dosenbier, Wodka und kleinen Kornflaschen auch Kilopackungen Gelierzucker (1:1) feilbietet.Die Ladentür zur stark befahrenen Hauptstraße steht offen, alle paar Minuten fahren Notarztwagen mit Martinshorn vorbei. Der Lärm, der in den Laden schallt, stört nicht. Vielmehr kann er als Requisite für ein Streetfood-Experience gedeutet werden. Vielleicht liegt es auch am Essen, das kaum Ablenkung zulässt; wenn die Umgebung laut ist, muss das Essen auch laut sein, denke ich. Man ist so mit den unterschiedlichen Eindrücken der Gewürze beschäftigt, dass die anderen Sinne erstmal lahmgelegt werden. Die Musik, die im Laden läuft, dient mehr als Untermalung, als dass sie sich in den Vordergrund drängt. Immer wieder kommen Leute in den Laden, um Essen zu bestellen und es dann in sehr großen prallen Tüten aus dem Laden zu tragen, eine insgesamt lebendige Atmosphäre. Im Hintergrund Knuspergeräusche von festgebackenem Fladenbrot. Die Bedienung ist mehr als entspannt, als wäre man zu Besuch bei einer gemütlichen Verwandten, die sich mit allem viel Zeit lässt. Andere Gäste unterhalten sich mit ihr über die Zubereitung des Essens und darüber, dass die Zutaten aus dem Laden an der Ecke kommen.

Audiofile Maayas Express, klick hier:

Die Nourrituren
Als Aperitif:
Schwarzer Tee mit Ingwer und Milch

Zur Vorspeise:
Mutton Roll knusprige Frühlingsrolle mit einer leicht scharfen Kartoffel-Lammfleischfüllung und Gewürzmischung aus Sri Lanka, 1,80 €

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Zur Hauptspeise:
Die Begleitung verzehrt Maayas Biryani Chicken
Hähnchenfleisch und aromatischer Bratreis in hausgemachter Spezialsauce mit frischem Koriander und Pfefferminzblättern, dazu Cashewnüsse, verfeinertes Auberginencurry, süß-scharfes Ananascurry, Tomaten-Zwiebel-Gurkensalat mit Joghurtsauce und gekochtem Ei,11,50 €

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Maayas Biryani Chicken

In der Mitte des stark gewürzten Reisbergs verbirgt sich eine kleine Hähnchenkeule. Wie sich im Verlauf des Verzehrs herausstellt, ist der Reis mit ganzen Nelken und Kardamonkapseln gewürzt. Ganzer Kardamon schmeckt besser als gemahlener, letzterer kann sehr dominant und scharf sein, durch die Kapseln wird dem Reis nur ein leichtes süßliches Aroma hinzugefügt. Das Gericht hätte laut Begleitung noch schärfer sein können.

Restauranttestergebnis: 8,5 von 10 Sternen!


Freitag, 12.07.2024, Die Glocken der Reinoldi-Kirche

In dem Artikel „[...] und die Zahl der Notleidenden ist hier gewaltig groß“ in der Zeitschrift Heimar Dortmund widmet sich Hannes Tutschku Dortmunder Stimmungsberichten aus dem Ersten Weltkrieg. In dem Absatz „Glocken und Kanonen“ beschreibt er den Metallmangel aufgrund benötigter Kanonen:
Es sollte möglichst alles dingfest und beschlagnahmt werden, was sich irgendwie zu Kanonen verarbeiten ließ, wie Glocken aus Bronze, Bierglasdecke und Bierkrugdeckel aus Zinn, Einrichtungsgegenstände aus Kupfer, Messing etc. Dazu gehörten etwa Türklopfer, Klinken, Schlüsselschilder, Griffe, Zierknöpfe. (Ebd. 2014, 7)
1917 wurden Richtlinien für die Beschlagnahmung der Glocken in der Provinz Westfalen erlassen, wobei historisch wertvolle Glocken vor der Zerstörung verschont bleiben sollten. Eine ebenso gewaltige, wie groteske Melde-, Sammel-, Begutachtungs- und Zerstörungsmaschinerie in Sachen kriegswichtigen Metalls war in Gang gesetzt worden. (Ebd.)
Hartwig Kersken vom Stadtarchiv Dortmund schreibt mir in einer Email folgendes:
Das alte Geläut der Reinoldikirche aus dem 19. Jahrhundert, bestehend aus vier Bronzeglocken, wurde nach dem 15. Juli 1917 vom Turm herabgelassen und danach für die Kriegsrüstung eingeschmolzen. Ausführende Unternehmen waren die Firmen Hanebeck und Kaupe.

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Die zum Einschmelzen heruntergelassenen Glocken vor der Reinoldikirche

Glockenklänge schwanden also aus der Klangsphäre der Stadt. Theodor Lessing schreibt in seiner Streischrift Lärm gewohnt lakonisch gegen den Klang von Kirchenglocken an:
Auf dem Lande, in ganz einfachen patriarchalischen Verhältnissen, in allgemein gleichartigen Sitten und Lebensbedingungen, da hat es schönen tiefen Sinn, wenn die Glocke zum Aufstehen, Vesper und Arbeitspausen mahnt, wenn sie Gebet und Tod, Gefahr und Freude, Morgen und Abend einläutet. Denn alle teilen ja beim gleichen Anlass die gleichen Gefühle. Alle orientieren sich willig an diesem Symbol. An Stätten dagegen, wo Menschen verschiedener Berufe, Daseinsformen und Arbeiten, verschiedenen Bekenntnisses und Weltgefühls eng beieinander wohnen und die Kirche viel weniger als jede praktisch wirtschaftliche Idee eine Vereinheitlichung des Lebens verwirklichen kann, da ist es störend, wenn sich Glockentöne, deren Bedeutung keiner fühlt und kennt, aus allen Richtungen der Windrose in Privatgefühle und Privatgedanken mengen. (Lessing, ebd. 99f.)

Was Lessing wohl über das Einschmelzen von Glocken geschrieben hätte? Und wie die Bewohner Dortmunds den Anblick der zur Zerstörung heruntergelassenen Glocken wohl empfanden?
Dass selbst Kirchenglocken für Kriegszwecke eingeschmolzen wurden, veranschaulicht das Verhältnis zwischen Härte und Material, im Krieg zählt bloß die Frage danach, wie Material in Härte übersetzt werden kann.

Glocken der Reinoldi-Kirche nach dem ersten Weltkrieg
Die als Ersatz beim Bochumer Verein bestellten Gussstahlglocken trugen die propagandistischen Namen  „Kaiserglocke“, „Hindenburgglocke“, „Lutherglocke“ und „Reinoldusglocke“. Dieses Geläut wurde wiederum im Zweiten Weltkrieg zerstört. Vorhanden ist nur noch die Kaiserglocke, die heute vor St. Reinoldi am Westenhellweg steht. Die heutigen sechs Glocken bestehen aus Stahl und befinden sich seit 1954 im Glockenstuhl. Heute hängt im Glockenturm ein Großgeläut der Gießerei Bochumer Verein aus dem Jahre 1954 mit einem Gesamtgewicht von 15,7 Tonnen. Es ist das zweitgrößte Gussstahlgeläut der Welt. glocken
Kaiserglocke vor der Reinoldikirche

Glocken der Reinoldi-Kirche, 11.07.2024 um 12 Uhr, die gegenüberliegende Kirche St. Marien setzt nach ca. einer Minute ein, klick hier zum Anhören:



Dienstag, 9. Juli 2024, Dorstfeld - Teil 2

Unweit des Wilhelmplatz in Dorstfeld befindet sich das Haus Schulte-Witten, dahinter eine großzügige öffentliche Parkanlage. Im Uhrturm des Hauses wurde im Sommer 1989 ein elektronisches Glockenspiel installiert, welches viermal am Tag erklingt. Das Glockenspiel sollte ursprünglich mit dem Steigerlied an den Bergbau in Dorstfeld erinnern. In den frühen 2000er Jahren wurde das Glockenspiel renoviert und das Repertoire mit dem Volkslied Wenn alle Brünnlein fließen erweitert, das ich von einer Bank im Park aus mitschneide.
Glockenspiel, klicke hier:

Glockenspiele liefern keinen Text, umso interessanter also, mal nachzuschauen, welche Worte sich hinter dem einfachen Gebimmel verbergen. Im Internet finde ich folgenden Text.
Wenn alle Brünnlein fließen, Liedtext
liedtext
Nach der eingehenderen Lektüre der verborgenen Textbotschaft des Glockenspiels frage ich mich: Welcher Brunnen? Wessen blaue Augen? Wessen Fuß, der subtil wessen Füße tritt, wessen rote Wangen? Und überhaupt: Was hat dieser antiquierte Schlager einer sehr selbstsicheren Liebe in Dortmund-Dorstfeld verloren? Vielleicht wollten die Verantwortlichen mit der Einführung des Brünnlein-Lieds und dem Ausboten des sich auf den Bergbau beziehenden Steigerlieds endgültig das Image Dortmunds als Arbeiterstadt untergraben, vermute ich. Auch der Mitarbeiter des Stadtarchivs kann mir nicht sagen, weshalb es zur Einführung des neuen Glockenspiels kam.
Als dilettantische Konzeptdenkerin by heart schwirren mir gleich unzählige Ideen durch den Kopf, wie dieses volkstümelige Gewese künstlerisch aufgebrochen werden könnte. Zwölf Glocken vermögen keinen Jazz und keine Vierteltonmusik zu erzeugen, aber vielleicht andere Lieder, die klanglich subtil mit der Umgebung Dorstfelds spielen. Warum lädt man nicht mal ein paar Künstler ein, die den Turm mit den Glocken für eine Woche für ihre Zwecke bespielen. Was sag ich?! Künstler? Die Anwohner selbst sollen die Programmierung bestimmen, ihre Lieblingssongs auf Zettel schreiben, die Zettel im Briefkasten des Haus Schulte-Witten einwerfen und dann wird die Musik einen Sommer lang durch die Nachbarschaft bespielt! Hm, vielleicht wäre dies auch etwas nervtötend :)

Auf die Lautsphäre von öffentlichen Glockenspielereien macht Theodor Lessing in seinem Buch Lärm aufmerksam:

Fast grausam ist es aber, Glockentürme oder Uhren mit Choralbegleitung und ähnlicher mechanischer Musikspielerei einer ganzen Stadt, unter deren Tausenden doch wahrscheinlich auch drei oder vier denkende Köpfe sich befinden, schlankweg aufzudrängen. Solche Musikkunstwerke (…) sind hübsch und respektabel, wenn sie uns hie und da einmal an entlegener Stelle begegnen, in der Sebalduskirche in Nürnberg, im Straßburger Münster, an der Rathausuhr in Prag. Aber ein reizbares, feines Gehör, ein kultiviertes Ohr empfindet dergleichen als Barbarei, wenn man (…) gezwungen wird, neben einem Kirchturm zu schlafen, von dem Stunde um Stunde dieselbe Choralmelodie seelenlos mechanisch herniederdröhnt, bis sie sich schließlich in jede Arbeit und sogar allmählich in die Träume schiebt und die gesamten Funktionen des Organismus sozusagen auf ihren Rhythmus dressiert, den man wofern solche Einwirkung in früher Jugendzeit erfolgt, sicher lebenslang nicht mehr aus dem Ohre bringt. Wie vornehm und würdig erscheint dagegen der einsame Ruf der Moslem (…) zur Stunde des Gebets, wie würdig das schweigende Anzünden des durch den Abend brennenden Synagogenlichtes, wenn die Stunde zur Einkehr gekommen ist.
(Lessing in Lärm 2023, S. 100f.)

Zwischen 9 und 18 Uhr erklingt aus dem Glockenturm des Haus Schulte-Witten jede Viertelstunde (!) der Westminsterschlag. Auf einer Bank in der Parkanlage sitzend versuche ich zu lesen, doch in einen Leseflow komme ich bei dem ständigen Gebimmel nicht, jede Viertelstunde werde ich daran erinnert, dass die Zeit um weitere fünfzehn Minuten vergangen ist. Glockentürme, wie der des Haus Schulte-Witten, die bei jeder vollen Stunde die Anzahl an Schlägen der Uhrzeit zum klingen bringen, haben leicht sadistischen Charakter, vor allem wenn es zwölf Uhr schlägt. Demgemäß macht Lessing in seiner Passage über den Glockenklang folgenden Vorschlag:

Schließlich möchte ich anregen, dass auch der Schlag der Turmuhren eingeschränkt werden möge. Ich sehe nicht ein, warum sie heute, wo auch der Ärmste eine Taschenuhr besitzt, jede Viertelstunde durch einen Schlag müssen; es würde genügen, wenn sie lediglich die vollen Stunden ausrufen und zwar jeweils durch einen einzigen Schlag (…).
(Lessing in Lärm 2023, S. 103)

Ja, dem stimme ich zu! :)


1. Juli 2024, Düsseldorf Düsterboys in Essen. Heavy bootlegging und neue Bekanntschaften

Die Regionalbahn soll eigentlich bis Duisburg durchfahren, kurz hinter Gelsenkirchen bei der Zeche Zollverein haltmachen. Doch ab Hauptbahnhog Gelsenkirchen geht hier heute gar nichts mehr. Alternativ soll es mit der Linie 107 nach Essen weitergehen, doch die fällt auch aus. An der Haltestelle im S-Bahn-Schacht viele Gleichgesinnte. Willst du auch zu Pact zu den Düsterboys? Ja. Die Bahn soll ja gleich kommen. Wir unterhalten uns über Musik, über Musik mit deutschen Texten und auf welchen Konzerten wir dieses Jahr schon waren. Die Linie 107 ist immer noch nicht da, es ist schon 18.30 Uhr und um 18.45 Uhr soll Einlass sein, nach 19 Uhr lassen die keinen mehr rein, steht auf dem ausgedruckten Ticket. Immer mehr junge und mittelalte Leute haben sich versammelt.
Taxi!, denke ich. Wir teilen uns ein Taxi, sage ich und schaue drei unbekannten Leuten ins Gesicht, alle noch etwas unentschieden, doch wir sind schon auf dem Weg zur Rolltreppe. Vorne der Taxistand, zur Zeche knapp 20 Euro, ein Fünfer für jeden. Zackdiwupp sitz ich auch schon auf der Rückbank zwischen Helen und Christin, vorne neben dem Taxifahrer Alex. Die Taxifahrt ist schon das Highlight an diesem Abend, ein bisschen wie Kontakteknüpfen bei ebay Kleinanzeigen. Man kennt die Leute nicht, mit denen man zu tun hat, steht mit ihnen in einem monetären Verhältnis und weiß, dass man letztendlich auf einen grünen Zweig miteinander kommen wird und ggf auch weiterhin in Kontakt bleibt. Alex und Christin sind aus Bochum angereist, Helen aus Dortmund. Dass das Ruhrgebiet eine große Stadt ist und man mal so von einem Ort zum anderen fährt, stimmt so nicht, meint Alex, vielleicht nur bei besonderen Events. Helen kennt den letzten Stadtschreiber und Christin den vorletzten. Beim Zielort angekommen, legen wir unsere Fünfer zusammen und laufen ins Pact. Helen trifft ihre Studienfreundin Isabel, die beiden müssen zu den Toiletten. Bis später, lass uns da drüben an der Garderobe treffen, wenn das Konzert vorbei ist.
In einem großen hellen Raum kann man an einer Theke Bier kaufen. Die Kühlanlage sei ausgefallen, das alkoholfreie Bier sei warm, sagt der Typ hinter der Theke. Ich kauf mir ein Radler, setze mich auf ein Kissen auf der Fensterbank und schaue in den Raum, mit den vielen Tischen erinnert er an eine alte Kantine. In meinem Rücken die Fensterscheibe. Ich drehe mich um, schaue aus dem Fenster, muss an den Wikipedia-Artikel über die Zeche Zollverein denken, den ich heute überflogen habe, und mir fällt ein, dass vor etwa zehn Jahren befreundete Stadtforscher den Ort als kulturelles Erbe für Promotionsvorhaben begleiteten.
Ich mache ein Foto von ein paar Relikten hinter der Scheibe. Die schönste Zeche von der ganzen Welt, denke ich, drehe mich wieder um, schaue mir das Foto auf dem Handydisplay an und trinke mein Radler aus der Flasche.
zzz
Die schönste Zeche von der ganzen Welt :)

Kurz darauf ist Einlass, über Treppen geht es in einen bestuhlten Raum mit steilen Rängen. Ich sitz relativ vorne in der Mitte. Aus den Lautsprechern schallt WDR4, neben mir ein Mädchen Anfang Zwanzig mit Wolfcut, den so viele hier tragen. Sie ist etwas nervös, hibbelt auf ihrem Sitzplatz rum, zupft am Bund ihres Oberteils. Als zünftige Marschmusik aus den WDR4-Boxen kommt, trommelt sie wild mit beiden Handflächen im Takt der Musik auf ihren Armlehnen. Eigentlich ganz sympathisch. Die Radiobeschallung ist penetrant laut, kein Wunder, dass die Leute hier hibbelig werden. Ich schaue zu ihr rüber, sie schaut mich an und kiekst. In der Reihe vor mir unterhält eine Endzwanzigerin ihre Freunde mit einer Erörterung über den Unterschied zwischen dem Verhalten von Kölnern (warm, herzlich) und Düsseldorfern (kühl, arrogant, distanziert). Ob jemand aus Köln oder Dösseldorf sei, könne man schon in den ersten Sekundenbruchteilen erkennen. Sie ist richtig engagiert bei der Sache, und ihre Sitznachbarin pflichtet ihr bei. Oje, ich weiß ja auch nicht … Ich glaube ja, dass Kühle manchmal auch Ausdruck einer gewissen Aufrichtigkeit ist, möchte die Theorien über dieses Gespräch aber thematisch auch nicht weiter anreichern. :)
Um 19 Uhr schallt WDR4 die Nachrichten in den Raum, mit anschließendem Verkehrsbericht über die Autobahnen in NRW, das Radiodings muss wohl doch zur Show gehören, denke ich. Es folgt eine Klassiksendung zum Thema Fantasie. Quasi una fantasia, erklärt der Moderator in antiquierter Pose und Beethovens Beinahe-Fantasie schallt durch den Raum. Ich frag mich die ganze Zeit, ob das live-Radio ist, aber muss ja, weil die in den Nachrichten irgendwas von Fußball gesagt haben. Später, während des Konzerts, wird ein durch ein Mikrofon verstärktes Radio zum Nebenakteur der Show, find ich gut, bin ja Radiofan. Vor tosender Klassik tauchen die zwei Männer mit den drei Gitarren in der Dunkelheit auf dem Bühnenraum auf.


*Heavy bootleg*, zum Anhören der Klangkulisse vor dem Konzert inklusive WDR4 und aufgeregtem Publikum, klick hier:




Zum Konzert möchte ich gar nicht viel schreiben, Isabel wird auf dem Weg zur Bushaltestelle später noch sagen, dass sie es schwierig findet, anderen Leuten die Musik der Düsterboys zu erklären, zwei Männer mit Gitarren, sagt sie, aber da höre es auch schon auf mit den passenden Worten. Ich finde die Zweistimmigkeit besonders, die beiden Stimmen lavieren umeinander wie weiche Bewegungen von zwei Synchronschwimmern, die sich unter Wasser auch mal aus Versehen berühren oder so. Ist wieder diese Art von Konzert, die keine Schallplatte ersetzt, es geht um den reinen vergänglichen Moment.
Helen kommt zur Garderobe. Ob ich auch noch eine Weile hier bleiben möchte, fragt sie. Ich mach mir ein wenig Sorgen bezüglich der Rückreise, die wieder kompliziert werden könnte, finde es aber supernett, dass hier gerade so Verbindlichkeiten abgehen, folge ihr wieder zurück in den großen Kantinenraum und kauf mir ein Radler. Da vorn seh ich Daniel sitzen, den Fotografen vom Bodo-Magazin, bisschen so, als würde ich in Berlin Bekannte treffen. Wir unterhalten uns über das Konzert und Konzerte, auf denen er zuletzt war, das letzte Bodo-Fotoshooting und ein Konzert seines kleinen Sohnes, auf dem er heute war. Er fragt, wie es mir so ergeht, ich sage, ganz gut, dass es auch gut ist, mal auf sein Gefühl zu hören und auch mal nach Hause nach Berlin zu fahren. Sommer in Berlin ist schon gut, mit dem Fahrrad über die Karl-Marx-Allee zu fahren, erinnert mich immer an den allerersten Sommer in Berlin 2005. Ooh shit, Berlin-Talk wollte ich mir eigentlich abgewöhnen, vor allem weil es mich doch von dem Ort, an dem ich gerade lebe, doch so entfernt. Aber naja, Sommer in Berlin ist schon gut. In Dortmund kennt jeder jeden um zwei Ecken, was mir eher unangenehm ist, sage ich und fange an, von der Anonymität zu schwärmen, wegen der man ja auch nach Berlin gekommen sei, um mal frei von allen und jeden Erwartungen zu sein, und Torsten möchte gerade anfangen, von den Netzwerken in Dortmund zu reden, da kommt Helen, sie würden dann in einer Viertelstunde losgehen, ob ich mich noch draußen mit ihr und Isabel hinsetzen mag. Die beiden schnorren sich noch zwei Zigaretten und wir laufen zu dritt zur Bushaltestelle, Isabel erzählt, sie wäre einmal einer total guten Kneipe gewesen, sie schaut in ihr Handy, um den Namen herauszufinden: Taranta Babu hieß die, sagt sie. Helen und ich müssen lachen, wer mag Taranta Babu nicht! Auf der Fahrt mit dem Linienbus nach Gelsenkirchen (awww) unterhalten wir uns über deren Studium der vergleichenden Literaturwissenschaften in Bochum, über Bücher, die sie in ihrem Französisch-Seminar gelesen haben, und über Dortmund und Bochum im Allgemeinen. Helen ist in Dortmund aufgewachsen, aber schon so oft umgezogen, dass sie sich dort nirgends zu Hause fühlt. Bochum sei da mehr ihr Zuhause.
Am Bahnhof in Gelsenkirchen verabschieden Helen und ich Isabel und laufen einem Pulk englischer Fußballfans hinterher in eine Regionalbahn nach Dortmund. Die Engländer tönen durchs gesamte Abteil, wir müssen laut reden, um uns zu verstehen. Als Helen geboren wurde, hab ich Abi gemacht. Wir unterhalten uns über die Großelterngeneration, über Filme, die wir beide gesehen haben und beide gut finden, über Länder, in denen wir beide gerne reisen, über das Praktikum, das sie gerade am Campusradio macht, über ihre Beziehung zu ihren Eltern und die zu meinen Eltern. Sehr sehr angenehm. Am Bahnhof in Dortmund tauschen wir Handynummern und verabschieden uns voneinander. War ein schöner Abend, dankeschön!


30.06.2024. Dortmund is united by rain

Am Bahnhof angekommen laufe ich am 29.06. die Friedrichstraße hoch, dann über die Möllerbrücke, Autokorsos mit Deutschlandfahnen hupen vor sich hin, Rumpelrewe hat noch geöffnet, auch die Tapasbar zeigt sich unbeeindruckt von dem heutigen Fußballspiel. Die Kneipe Bürgermeister Lindemann hat all ihre Türen weit geöffnet, ein großer Monitor mit hellgrün leuchtendem Bild zeigt zur Straße, die üblichen tätowierten bärtigen Typen mit kahlrasierten Haaren stehen davor (müsst ihr mal drauf achten: je weniger Haare Typen auf dem Kopf tragen, umso mehr haben sie im Gesicht!) Autos halten an der Ampelkreuzung Neuer Graben, ein Autofahrer nutzt die Pause, kurbelt die Fensterscheibe herunter. „Wieviel stehts?“, ruft er einem Bürgermeister Lindemann zu, der dem Autofahrer „Null zu Null, wir schaffen das noch!“ zurückruft. Deutsche Solidarität on both sides. Der laue Abendhimmel zieht sich über den Dächern der Stadt dunkel zusammen. Mein Nachbar gegenüber hat seinen Balkon hübsch gemacht, neben einer Deutschland- und einer Schweizflagge steckt ein schwarzrotgoldener Plüschhut auf einem Stock in einem Blumentopf. Nach etwa zwanzig Minuten holt er den Hut rein, denn es hat von jetzt auf gleich zu regnen begonnen, als würden die Regentonnen der letzten beiden Regenwochen auf einmal auf diese Stadt ausgeschüttet. Auch im Stadion auf dem Bildschirm des Laptops regnet es, das Fußballspiel wird unterbrochen. Arbeiter im Stadtion kehren Wasser mit Besen von Tribünen, Männer stochern mit Stöcken in der Wiese herum, wahrscheinlich damit das Wasser besser absickert. Die drei Moderations-Muppets improvisieren ein Scandi-Talk über Dänemark und seine Fans. Der mit der Brille (Mertesacker) trotz Brille dämliche Allgemeinplätze über das „lustige nordische Volk“, kartoffeliger geht die Unterhaltung ja eigentlich nicht mehr. Irgendwann wird wieder gespielt. Doitschland gewinnt. Kein gelber Kartenregen, keine allzu fiesen Fouls, keine Schlägerei, dafür nüchterne Videoanalyse des Schiris. „Ich trainiere viel und schieß gern Elfmeter“, sagt Kai Havertz nach dem Spiel brav ins Mikro. Währenddessen rollt in Dortmund auch schon das nächste Gewitter heran und mit diesem auch die deutschen Fans, die vom Stadion über die Lindemannstraße laufen und gröhlen. Es rumort, es prasselt, und die Abstände zwischen Blitz und Donner werden immer kleiner. Eine abgedroschene Dramaturgie: Mit zunehmendem Gewitter wird auch das Gegröhle der Fans immer lauter, klick hier um es anzuhören:


Es regnet die ganze Nacht bis zum nächsten Mittag.
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25.06.2024 - Spaziergang über die Schnettkerbrücke

Den Tremoniapark verlasse ich bei meinen abendlichen Spaziergängen jedes Mal über den Leierweg. Folgt man diesen weiter Richtung Süden, gelangt man vor der Linkskurve auf einen Trampelpfad, der unter die Schnettkerbrücke, die Autobahnbrücke der A40, hindurchführt. Die durchsichtigen Lärmschutzwände spiegeln das Sonnenlicht Orange, und auch der kleine geheime Skateplatz, den einige Engagierte ganz dicht unter dem Boden der Brücke gebaut und mit bunten Graffitits schön gemacht haben, wird durch das untergehende Licht durchflutet.
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Über eine Steintreppe erreicht man die Brücke, was ich erst sehe, nachdem ich die steile Böschung hochgekraxelt bin. Ich laufe über die Brücke, die Sonne scheint durch die transparente Schallschutzwand, schemenhaft rasen die Autos dahinter vorbei.
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Andere Spaziergänger kommen mir entgegen, führen ihre Hunde Gassi, es ist 20 Uhr, die Zeit zwischen zwei Fußballspielen. Auf der Mitte des Brückenwegs mache ich halt, unter mir die Schienen des Güterverkehrs, wie ein ruhiger Flußlauf im Grünen.
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Auf der anderen Brückenseite angekommen, mache ich wieder kehrt und laufe am Mercedeswerk vorbei Richtung Stadion. Hier eins der vielen "Dortmund is united by Football"-Schilder. Ich mache ein Foto und überlege auf dem gesamten Heimwerk, welche Begriffe man statt "Football" einfügen könnte, die absurdesten gewinnen, siehe unten :)

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Veranstaltungshinweis "Schreiben im Flow/Silent Writing"
1., 8., 15. und 22. Juli (montags) ab 17 Uhr"

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Die Abende sind nicht zusammenhängend und bauen nicht aufeinander auf, so sind auch Neueinsteiger stets herzlich willkommen. Deutsch ist nicht zwingend Schreibsprache. So wie jede*r Schreibende es am besten kann.

Die Teilnahme ist kostenlos. Bitte bringen Sie eigenes Papier und einen Stift mit.

Wegen begrenzter Platzanzahl ist eine Voranmeldung unter VeranstaltungenZB@stadtdo.de oder 0231 50-16584 nötig!

Veranstaltungsort
Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Studio B
Max-von-der-Grün-Platz 1-3
44137 Dortmund


*20.06.2024* St. Reinoldi. Namen lesen – 24 Stunden Gedenkaktion
 St. Reinoldi. Gegen das Vergessen klick hier:

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*18.06.2024* Regen und Hoesch in Dortmund
Schön, dieser Regen in Dortmund, fast so schön wie in Großbritannien hier. Mehr als Podcast hören kann man bei diesem Wetter nicht, unter Kopfhörern lausche ich den Stimmen des höchst informativen Podcast HOESCH.150 - WIE STAHL EINE STADT PRÄGT. Hab letztens Ilona kennengelernt, die ehrenamtlich im Soez arbeitet. Sie hat dreißig Jahre lang bei Hoesch gearbeitet und kann damit wohl als Hoeschianerin bezeichnet werden. Die Transformation der Firma über die Jahre, die Übernahme durch andere Unternehmen und die Veränderungen der allgemeinen Arbeitsprozesse hat sie am eigenen Leib erfahren.
Der Regen draußen tobt immer lauter, im Podcast geht es nun um die Gründung der Firma: die Standortverlagerung der gut betuchten Familie Hoesch von der Eifel ins Ruhrgebiet. Und hier schließt sich der Kreis vom hier und jetzt ins regnerische Großbritannien: Denn einer der drei Eberhards der Familie war vor Firmengründung auf einer Studienreise in den damals innovativen Puddelwerken in England (Vorreiter der industriellen Revolution). Eberhard Hoesch war dort sozusagen „zur Industriespionage“, erklären die Podcaster, und konnte die Arbeitsprozesse, die für das zukünftige Unternehmen wichtig sein würden, genauestens studieren. Industriespionage werden wohl heute noch rechtlich geahndet, überlege ich: Das wird deutlich, wenn Armin von der Sendung mit der Maus einige Arbeitsschritte seiner Sachgeschichte, die in einer Fabrik spielt, überspringt - mit der Erklärung: „Und an dieser Stelle mussten wir die Kamera ausschalten, da dies das Geheimnis des Unternehmens bleiben soll."
Ah, der Regen hat immer noch nicht nachgelassen. Fast wie in England hier. Gleich kommen noch die Fußballhooligans und die Geräuschkulisse ist komplett. :)

*Audiofile*: Regen in Dortmund, klick hier zum Anhören:
*Hörtipp: Man kann die File auch (bei geöffnetem Fenster) mit dem Regen draußen zusammen hören, das ergibt dann so einen Hifi-Regen. :)
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*16.06.2024* Besuch der toten Gleise der Hoesch-Bahn. Revolution machen mit Dietrich Lacker
Dietrich Lacker kontaktierte mich vor etwa drei Wochen via E-Mail, weil er mir die toten Gleise der Hoesch-Bahn auf der Brücke am Gleisdreieck Gronaustraße/Oestermärsch und die darunter liegenden Zugstrecken zeigen möchte. Die Trasse soll einmal zu einem Radweg ausgebaut werden, schreibt er, Subkultur gebe es auch in der Nähe. Er selbst habe seit Jahresbeginn ein kleines Atelier in einem benachbarten Hinterhof, wo sich zudem Musiker aus verschiedenen Nationen träfen, der direkt an der ICE-Strecke liege.
Ich bin schwer beeindruckt, als ich am Montag Vormittag durch eine gelb gestrichene Eisentür einen schlauchartigen Gang unter dem Wohnhaus betrete, über den man den großzügigen bebauten Hinterhof erreicht. Auf dem Gelände ein auf den ersten Blick provisorisch zusammengebautes Gebäude, das sich als recht geräumig erweist.
Dietrich trägt ein Hörgerät, deshalb versuchen wird während der Unterhaltung Gesichtskontakt zu halten. Er erzählt, dass er seit Anfang des Jahres hier in dem Atelier sei und zeigt mir sein aufgeräumtes Atelier, in deren Ecken er hie und dort ein paar Werke aufgestellt hat. Als Kunsthandwerker verarbeitet er altes Werkzeug zu dekorativen Elementen.
Aufgewachsen in der Eifel und nach einer Zeit in Köln kam er 1975 ins Ruhrgebiet. „Eigentlich um hier die Revolution zu machen, hat aber nicht funktioniert“, erklärt er und lacht. In Köln habe er beim SSK am Salierring in selbstorganisierten Werkstätten für Erwerbslose gearbeitet. „Mit Arbeitslosen, Obdachlosen und Menschen, die aus Heimen oder psychiatrischen Einrichtungen abgehauen waren, haben wir versucht, zusammen das Leben zu organisieren, und einen freieren Lebensraum aufzubauen, mit Entrümpelungen und Gebrauchtmöbelverkauf.“ Doch da es irgendwann so viele Studenten waren, die auf freiwilliger Basis unbezahlt mitgearbeitet haben, ist er mit vier anderen Leuten 1975 nach Dortmund gekommen, um in der Hausbesetzerszene aktiv zu werden. Von 1981 bis 2015 lebte er in einem Haus in der Nähe des Fredenbaumparks.

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Dietrich L. In seinem Werkstattatelier

In der Werkstatt hier im Hinterhof arbeitet er in den frühen Stunden bis zum Nachmittag, wenn noch keiner da ist, später kommen die Musiker, erzählt er. Samstags finden auch Sessions statt, doch er mag die Ruhe am Morgen, die Nächte schlägt er sich nicht mehr um die Ohren. Er führt mich durch einen großen Raum mit einer Küchenzeile und zeigt in einen mit Teppich ausgelegten Raum, in dem ein Schlagzeug, Verstärker, viele Trommeln, Gitarren und andere Instrumente stehen.
Dann kommt Mossi, ein iranischer Künstler, mit seiner Hündin Anouk in den Hinterhof. Über Dietrichs Arbeitsraum liegt dessen Atelier, das man über eine Eisentreppe erreicht, hier arbeitet er an Gemälden. Wir wechseln ein paar Worte, bevor ich mit Dietrich zur Bahntrasse aufbreche. Auf dem Weg zur Brücke am Gleisdreieck erzählt er mir von seiner Tochter, die in meinem Alter ist, ebenfalls in Berlin lebt und auch ein Kind hat. Wir laufen etwa fünfzig Meter die Gronaustraße entlang, bis Dietrich vor mir die Böschung hinaufklettert, ich hinterher. In dem sandigen Boden liegen einige gebrauchte Heroinspritzen, je weiter wir die Böschung hochklettern, umso vermüllter wird es. Nach etwa sechs Metern, auf der Zwischenstation, scheint jemand seinen gesamten Hausrat abgeladen zu haben, ein alter Buggy, Kleidung, ein Couchtisch aus Holz – was für ein Aufwand, die Sachen hier hochgetragen zu haben, denken wir. Und irgendwie ist so ein Sperrmüllhaufen ganz schön privat, denke ich, so dass ich das Foto davon auch nicht veröffentliche.
Noch ein paar weitere Meter die Böschung hinauf und wir haben die alte Trasse erreicht. Tote Gleise der ehemaligen Hoesch-Bahn, so still so leise, kein Waggon rollt. Eines Tages soll das mal zu einem Radweg umgebaut werden. Wie die Schienen herausgehebelt werden, was wohl dann mit dem ganzen Eisen geschieht?

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Wir setzen unseren Weg geradewegs über die Schwellen der Trasse Richtung Brücke fort. Am Rand verteilt immer wieder Heroinspritzen, Bierflaschen, Unrat, ein benutzter Schwangerschaftstest, lappenähnliche Textilien. Kurz vor der Brücke hat sich jemand ein Lager aufgebaut. Auf der einen Seite hat man hier seine Ruhe, jedenfalls vor anderen Menschen, doch wenn alle Züge (der ICE nach Berlin oder der nach Hamburg sowie der Zug nach Münster und die Straßenbahn) zur gleichen Zeit hier durchfahren, ist es hier unheimlich laut. Dietrich freut sich über das Treiben der Bahnen unter der Brücke. „Da ist man als jemand, der die Hörgeräte ausschalten kann, um den Krach auszublenden, ganz gut bedient“, sagt er. Was sich hier alles kreuzt! Eigentlich fehlt nur noch der Flugverkehr. :)

*AUDIO HIER* Auf der Brücke der Hoesch-Bahn am Gleisdreieck, Züge kreuzen den Weg, klick hier zum Anhören
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Aussicht vom Gleisdreieck

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Auf der Brücke sind die Brombeerhecken mittlerweile so hoch gewachsen, dass wir nicht weiter kommen.

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Es war ein schöner Spaziergang, die stillgelegte Trasse ist ein wunderbarer Ort zum Abschalten. Ich werde nochmal vorbeikommen, vielleicht, um bessere Aufnahmen zu machen, um irgendwas zu schreiben oder bloß, um im September dann ein paar Brombeeren zu pflücken. Ich weiß gar nicht, ob ich dies überhaupt so offen sagen darf; Dietrich war bislang die angenehmste Person, die ich in Dortmund getroffen habe. Er war hier auch der erste, der mir viel Ruhe in dieser Stadt wünschte, auch für die Arbeit an meinem Roman. Das fand ich sehr aufmerksam, vor allem weil wir darüber kaum geredet haben. Als Kunsthandwerker braucht auch er den Rückzug und Zeit für sich und seine Arbeit. :) Danke, Dietrich. Ist wohl gar nicht so übel, älter zu werden. Den Part über die Psychiatrieentflohenen find ich jetzt im Nachhinein besonders interessant, werde ihn bei Gelegenheit nochmal darauf ansprechen.
Und jetzt mal weiterschauen, wer hier noch alles so welche Revolution macht ... :)


Donnerstag, 14.06.2024, Rumpelrewe und magischer Lift zum Pfandautomaten

Gaaaanz wichtiges Gesprächsthema: Supermärkte. Irgendwann um 2003 herum gab es mal eine Studie darüber, wo welche Berufsgruppe einkauft. Aus dieser Studie ging hervor, dass Akademiker es vorziehen, bei Aldi einzukaufen, weil ein kleines Sortiment weniger Zeitverlust verspricht. In Bezug auf den Zeitfaktor und die allgemeine Wahrnehmung von Supermärkten hat mich diese Studie schwer geprägt. Ein wenig enttäuscht war ich hier in Dortmund schon, als ich die paar Aldi-Nord-Filialen gesehen habe, ich hatte auf Aldi Süd gehofft. Aber für Aldi-Süd, so erzählte man mir, müsste ich ein paar Kilometer weiter nach Hagen fahren. :)
Wo du deine Tomaten und Kartoffeln kaufst und wo nicht, ist für die Einwohner Dortmunds jedenfalls ein großes Thema! In den ersten Wochen war ich viel bei Rewe an der Möllerbrücke. Der Laden ist wie das schiefe Haus auf dem Jahrmarkt: Wo der Eingang ist, wo der Ausgang? Verkaufsstehlen versperrten labyrinthisch beim Abbiegen in einen weiteren engen Gang den Weg, Regalbrett türmte sich auf Regalbrett, vor lauter Produkten sah ich kein Produkt mehr. Und warum lief ich eigentlich immer ohne Einkaufswagen durch den Laden? Doch nur, weil ich zuvor gar keine gesehen hatte. Nach dem Bezahlen an der Kasse überkam mich beim Anblick der verschwommenen Bricolage aus Blumenladen, Bäckerei- und Grilltheke regelmäßig Schwindel und ich fragte mich, wohin plötzlich der angrenzende Getränkemarkt verschwunden war, den ich beim Betreten des mystisch düsteren Eingangsflurs noch im Augenwinkel erhascht hatte.
Nach einem Gespräch über meine Erlebnisse im Rumpel-Rewe mit C., hielt dieser dagegen: „Rumpel-Rewe?!“, sagte er konsterniert und wies mich darauf hin, dass es dort vor dem Umbau noch um einiges rumpeliger gewesen sei. „Umbau?“, fragte ich verdattert, und noch bevor ich in Beschreibungen dieser Örtlichkeit einfiel, winkt er müde ab und wandt ein - und das sei der ausschlaggebende Grund seiner nunmehr fünfzehnjährigen Rewe-Treue - seien die Mitarbeiter: „Alles zufriedene Menschen“, meinte er, ganz im Gegensatz zu den Mitarbeiter:innen im geleckten Edeka am Sonnenplatz, mit denen er durchweg schlechte Erfahrungen gemacht habe.
„Interessant“, sagte ich, „ich fand die eigentlich alle immer ganz nett, die haben mir immer ganz geduldig erklärt, dass ich mein Münzgeld beim Bezahlen da in dieses grünaufleuchtende Schubfach stecken soll.“ Aber was wusste ich mit meiner knapp sechs Wochen alten Edeka-Rewe-Erfahrung schon über Dortmunder Supermärkte....

Ob ich denn schon den Aufzug zu der Tiefgarage zu den Abgabeautomaten für die Flaschen für den Einmalpfand gewesen sei?, fragte C. mich dann. „Da hat es mal einen Bericht drüber gegeben, unter dem Titel Unorte in Dortmund“.
Nein, sagte ich, das klinge interessant, und versprach ihm, Rumpel-Rewe doch nochmal eine Chance zu geben.
Die Woche drauf fahre ich zu Rumpel-Rewe in der Hoffnung, meine Wahrnehmung hätte mich bei den letzten Malen einfach getäuscht. Doch leicht überfordert stehe ich nach Marsch durch den Eingangsschlauch erneut in der altbekannten Alice-im-Wunderland-Kulisse und entscheide mich zum Selbstschutz, es heute bei dem Besuch der Flaschenabgabeautomaten in der Tiefgarage zu belassen. Nachdem ich die Frau hinter der Blumenbrötchenhalbeshähnchentulpentheke nach dem Weg zum magischen Aufzug gefragt habe, stehe ich schon im unscheinbaren Lift, der in die Unterwelten der Tiefgarage führt. Sobald sich - unten angekommen - die Aufzugstür öffnet, schlägt mir ein geifernder Dunst entgegen, der nur schwer zu umschreiben ist. Wirklich schade, dass es noch kein Geruchsinternet gibt. Die Luft ist gifitg erfüllt, als hätte man alle noch vorindustriellen Bierabfälle mit irgendwelchen Bakterien versetzt und das faulige Gemisch durch einen geruchsverstärkenden Ventilator gejagt. Vorne in der Ecke steht er, der Pfandflaschenautomat, geruchslose Unschuld vorgaukelnd, wie ein Ticketautomat. Der Sound des Aufzugs ist dagegen richtig harmlos, siehe hier.

Fahrt mit dem Lift zur Tiefgarage, klick hier zum Hören:


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Lift in der Tiefgarage

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Flaschenrückgabeautomat in der Rewe-Tiefgarage





Mittwoch, 13.06.2024, Das Bodo-Glöckchen

Nach einem Termin in der Nordstadt kam ich diese Woche im Schwanenwall zufällig am Buchladen des Bodo e.V. vorbei. Die überaus professionellen und sympathischen Journalisten vom Bodo Straßenmagazin hatten mich erst kürzlich für die Juni-Ausgabe interviewt. Das Heft kann (für den guten Zweck) für 3,50 Euro erworben werden.
Ich bin mehr als begeistert von der gemeinnützigen Organisation, die sich in Bochum (Bo), Dortmund (Do) und der Umgebung aktiv gegen Obdachlosigkeit engagiert. In einem Blog informiert der Verein regelmäßig über dies betreffende aktuelle Themen und stellt relevante Fragen des Zusammenlebens in der Stadt, die gerne ignoriert werden. Was bedeutet die bald anstehende Fußball-EM zum Beispiel für Obdachlose? Dieser lesenswerte Artikel z.B. ließ mich aufhorchen.

Der Buchladen
Beim Betreten des modernen Antiquariats am Schwanenwall 36-38 wird man von einem freundlichen Ladenglöckchen begrüßt, im hinteren Teil des Ladens werden gerade Bücher sortiert. Die Auswahl der Bücher ist erlesen, ich stöbere durch die wohlsortierten Regale und entscheide mich für einen Kurzgeschichtenband des japanischen Autoren Yasushi Inoue, das ich an diesem Abend in einem Rutsch weglese und am Folgetag per Schneckenpost meiner Freundin K. in Oldenburg schicke, da ich weiß, dass auch sie das Buch mag.
Buchliebhabern ist der Laden wirklich ans Herz zu legen.
Unten eine Hörprobe des Ladenglöckchens :) Wenn nur an jedem Laden ein freundliches Glöckchen am Rahmen der Eingangstür angebracht wäre.

Glöckchen im Bodo-Buchladen, Aufnahme insgesamt gekürzt, klick hier zum Hören:





10.06.2024, Dorstfeld, Teil 1
Klar gehöre ich zu den Leuten, die erstmal an bestimmten Orten selbst gewesen sein wollen, um über diese reden zu können. Orte mit schlechtem Ruf tun mir ganz schnell leid, weil es selbst an diesen Orten freundliche Nischen gibt, die es doch auch medial aufzuplustern gilt. Informanten haben mich natürlich schon im Vorfeld über die unappetitlichen rechten Zellen in Dorstfeld aufgeklärt. Unweigerlich kommt mir der Weitling-Kiez im Berliner Bezirk Lichtenberg in den Sinn, der schon zu Vorwendezeiten ein beliebter Treffpunkt für Ostberliner Neonazis war. Ab 1990 professionalisierte sich die Neonazi-Szene durch Hausbesetzungen in der Weitlingstraße. Neonazikader nutzten den Ort, um Schulungen durchzuführen. Wie es um den Weitlingkiez gegenwärtig steht, kann ich gar nicht genau sagen, die sichtbaren rechten Zellen wurden wohl zerschlagen, (während die rechte Gesinnung weiter zunimmt ...). Rein optisch hat Lichtenberg aufgrund der starken Begrünung, den pittoresken Altbauten und dem dörflich anmutenden Kaskelkiez stark an Ansehen gewonnen.
In Berlin war es bis vor kurzem nur eine Frage der Zeit, wann sich Studierende oder kreative Underdogs den unbeliebteren Stadtteilen annehmen, die Räume für ihre Zwecke nutzten, und einige von ihnen dann kaum zehn Jahre später Kinder bekamen, Ladenlokale mit neu eröffneten Kinderläden beglückten, sich beruflich professionalisierten und sich dann auch die hochpreisigen Mieten leisten konnten etc pp. Davon abgesehen, dass bezahlbarer Wohnraum immer knapper geworden ist, und studierende Neuankömmlinge nicht selten auf überteuerte Student:innenwohnheime ausweichen müssen, steht der Wandel von Stadtteilen auch immer in starker Abhängigkeit von der individuellen Entwicklung der Menschen, die in diesen Vierteln leben. Natürlich ist so ein Wandel, wenn er in rasanten Schüben und sehr einseitig vonstatten geht, zu kritisieren. [Ich möchte das hier nicht noch akademischer ausführen und darüber auch nicht weiter belehrt werden; darüber habe ich eine Doktorarbeit geschrieben …].
Die Frage, wie sich Dortmund entwickelt, kann ich an dieser Stelle nicht beantworten. Interessant ist jedoch der erste Eindruck, dass sich die Stadt nicht (wie Berlin) vom Zentrum aus in gleichen Teilen wie in Ringen einer Baumscheibe nach Außen weiter umkrempelt.
Über das Image eines Stadtteils entscheidet auch in großen Teilen die mediale Produktion dieser Orte. Hat ein Viertel einmal einen bestimmten Ruf, kriegt er ihn nicht mehr so leicht los. Schade eigentlich, denn würden sich die Einwohner nicht so stark von diesen Bildern beeindrucken lassen, würden sie totgeglaubte Nischen erobern. Heute war ich übrigens an so einem Ort in der Nordstadt, über den ich aber hier (noch nicht) öffentlich schreiben möchte, da ich mir sorgfältig überlegen muss, wie und ob ich überhaupt darüber schreiben kann. Denn diese kleinen urbanen nachbarschaftlichen Oasen gilt es auch immer vor zuviel Ansturm und medialer Aufmerksamkeit zu schützen, damit sie nicht eines Tages größeren Projekten anheimfallen.
Ok, genug der großen kryptischen Worte. Zurück zu Dorstfeld, wo ich letztens mit dem Fahrrad unterwegs war. Am Wilhelmplatz machte ich bei Rodnik halt, einem Supermarkt für russische und polnische Lebensmittel.
Rodnik, Wilhelmplatz, klick hier zum Hören:

Ich mag solche Läden ja ganz gern, weil man immer irgendetwas anderes findet als bei Rewe, Netto oder Edeka. Ein Dessertpulver unter dem Namen КцсеЛв weckte aufgrund der farbenfrohen Gestaltung der Verpackung mein Interesse und auch, dass die Ukraine als Herstellerland für diesen Himbeerpudding angegeben war. In der Zutatenliste befanden sich auch einige Farbstoffe der Gruppe E, die in rauen Mengen zu Konzentrationsstörungen führen sollen. In dieser kleinen Wackelpuddingdosis sicher ok, sagte ich mir und dachte an meine weise Freundin R. aus Köln, die in einem spannenden Gespräch über aluminiumhaltige Deodorants einmal zu mir meinte, sie rauche keine Zigaretten, da könne sie mehr oder weniger bedenkenlos Aluminiumdeos benutzen. Manchmal überlege ich seitdem, welche Konsumprodukte ich meiden sollte, um andere auszuprobieren, oder auch, welche Verhaltensweisen ich ablegen sollte, um mir neue aufzuspannen. Naja, jedenfalls hab ichdas ukranische Himbeerwackelpuddingpulver auf das kurze Kassenband gelegt, meine knapp zwei Euro bezahlt und mich gefreut, das rosa Zeug irgendwann mal für meinen Sohn zuzubereiten.

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Die Zubereitung von КцсеЛв gestaltet sich als unkompliziert, der Zucker ist – ganz anders als bei seinem doitschen Anverwandten – im Pulver enthalten. Nach dem Aufkochen des im Wasser aufgelösten Pulvers entsteht eine visköse Masse. Statt klarer Gelatine beinhaltet das Produkt Stärke – anders kann ich mir die eher milchig-rosa Optik nicht erklären. Die Süße erinnert stark an Puderzucker, die Himbeernote ist kaum herauszuschmecken. Meinem Sohn schmeckt es leider nicht, ich mische mir ein paar Löffel in den Naturjoghurt.

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Freitag, 07.06.2024, Der Dortmunder Schriftsteller Erich Grisar, Teil 3, Cäsar 9

Erich Grisars Roman Cäsar 9 wurde posthum im Auftrag des Fritz-Hüser-Instituts editiert und 2015 veröffentlicht.
Cäsar 9 bezeichnet das Planquadrat (C 9) auf der vom britischen Bomber Command angefertigten Karte zur Vorbereitung der Luftangriffe auf das Ruhrgebiet während des Zweiten Weltkriegs. Im Planquadrat C 9 lag die Stadt Dortmund.

Fritz Hüser schrieb 1968: „Der Roman von der Zerstörung der Stadt Dortmund im letzten Weltkrieg enthält grandiose und dokumentarische Szenen – er ist leider immer noch ungedruckt!“ Eine Veröffentlichung des Manuskripts, das der Autor 1948 abschloss, gestaltete sich als schwierig. Denn die erzählerische Beschäftigung mit der Zerstörung Dortmunds, den Verbrechen an Kriegsgefangenen sowie die Auseinandersetzung mit den Hungers- und Wohnnöten während (…) des Krieges mag im Kontext der Bemühungen um den Wiederaufbau höchst unwillkommen gewesen sein. Bei zeitnaher Publikation hätte der Roman „zahlreiche neuralglische Punkte der Nachkriegsgesellschaft auf einmal berührt“ (Maxwill 2016, 332). Maxwill versteht den Roman nicht als Klage über die Bombenangriffe, dafür sei sich der Autor allzu deutlich über die ideologischen Katastrophen bewusst. Vielmehr stelle der Roman „Fragen von Vereinnahmung und Verblendung (…): Wie rasch lässt sich der Einzelne korrumpieren? (…) Und wie lässt sich innerhalb eines totalitären Systems überhaupt noch Distanz wahren und Widerstand ausüben, ohne sich selbst sogleich in Gefahr zu begeben?“ (Ebd., S. 340)

Erich Grisar – Cäsar 9, S. 340, klick hier zum anhören


02.06.2024, Der Dortmunder Schriftsteller Erich Grisar, Teil 2, Die Drehscheibe

Zum Ende dieser Woche ein weiterer kurzer Text mit dem Titel „Die Drehscheibe“ aus Erich Grisars Roman Ruhrstadt. In diesem Teil beschreibt Grisar die Grenzziehung innerhalb der Stadt (Nord/Süd) inklusive deren Bewohner, also die Vorstellungen von zwei voneinander abgegrenzten Wohnarealen, eine zweifelsohne zeitlose und die Deindustrialisierung wirkende Allegorie von Städten, die mir seit meiner Ankunft in Dortmund, wenn ich näher drüber nachdenke, jedes Mal aufs Neue unbegreiflich erscheint.

Erich Grisar – Ruhrstadt, Die Drehscheibe, klick hier


28.05.2024, Der Dortmunder Schriftsteller Erich Grisar, Teil 1, Arbeit im Hüttenwerk Thomas

Der Dortmunder Schriftsteller Erich Grisar (1898–1955) war Lyriker, Romanautor, Journalist und Reiseschriftsteller. Sein Gesamtwerk umfasst den Arbeiterdichter der 1920er-Jahre ebenso wie den anekdotischen Humoristen der Nachkriegszeit.

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Sein Roman Ruhrstadt „hätte sein maßgeblicher Roman zum Ruhrgebiet, genauer: zum Leben und Arbeiten in Dortmund werden können“, schreibt Arnold Maxwill im Nachwort zum Roman und konstatiert für die frühen 1930er Jahre, also die Zeit, in der Ruhrstadt entstand, „eine enorm hohe Dichte literarischer und journalistischer Beschäftigungen mit dem Ruhrgebiet […]: als Region, als Landschaft, als Lebenswelt und Konglomerat von Industrie, Arbeiterschaft und Städtewachstum.“ (ebd., 268) Glaube man den Textspuren im Nachlass, „tippte [Grisar[ den Roman direkt in die Schreibmaschine und beendete den Text Ende Juli 1931 nach nur zweieinhalb Monaten Schreibarbeit.“ Die schnelle Romanproduktion schließt Maxwill aus Grisars „enorme[r] Vertrautheit mit dem Sujet (ebd, 268).“ Die erste der insgesamt drei Grisar-Kurzlesungen stammt aus dem ersten Kapitel aus Ruhrstadt, in dem der Autor präzise die Arbeit im Hüttenwerk beschreibt. Ich empfand den Text bei der ersten Lektüre stark ästhetisierend in Bezug auf die Arbeitsprozesse; die Vorgängen im Hüttenwerk werden durch die Sprache poetisch aufgeladen. Dieser Eindruck spiegelt Arnold Maxwill in seinem Nachwort wider, in welchem er schreibt:

„Dass der Romancier Grisar allerdings durchaus zum Pathos neigt, sobald es um das Thema 'Arbeit' geht, soll nicht verschwiegen werden. 'Arbeit' erfährt in Ruhrstadt bei der Beschreibung der Tätigkeiten im Werk durchgängig eine Aufwertung, die aufgrund ihrer metaphorischen Durchdringung teils schon eine gewisse Sakralisierung beinhaltet.“ (Ebd., S. 271)

Mit Bezug auf Grisars Fotografien beleuchtet Maxwill das Verhältnis des Autors zur Arbeitswelt so:

„Grisars Fotografien zum Thema 'Arbeit' und 'Industrie' überzeugen heute rascher als es seine Erzählungen und Romane tun, die in den späten 1920er-Jahren von der Überzeugung geprägt waren, dem Arbeiter müsse qua Dichtung die 'Anerkennung des vollen Wertes seiner Arbeit' durch die Gesellschaft ermöglicht werden.“ (Ebd.)

Neben dem Pathos, der Grisars Beschreibungen durchdringt, hat der Text freilich auch dokumentarischen Charakter bei der Veraanschaulichung der Arbeitsabfläufe im Hüttenwerk Thomas.

Erich Grisar – Ruhrstadt, Hüttenwerk Thomas, klick hier


Sonntag, 26.05.2024, Südbad, 11.55 Uhr
Das offizielle Ende der Woche wird eingeläutet, Rausschmeißer im Südbad, leider vollkommen übertönt durch Föhnrauschen und Schließfachgeklapper, werde mich um eine bessere Aufnahme kümmern, an einem Abend nächste Woche :)

Rausschmeißer Südbad, Sonntag, 11.55 Uhr, klick hier zum Hören:

Lustig war auch das kleine Mädchen in den Damenduschen, das unterm warmen Duschstrahl superlaut vor sich hinsummte, als sei sie eigentlich nur zum Duschen ins Schwimmbad gekommen.


26.05.2024 – Rotstift in HÖRDE. Über Träume, Briefumschläge, Realschulen, TEDi und Fremdsprachen
Wenn ich ausschlafe, also so bis 7.30 Uhr, kann es mitunter passieren, dass ich mich an all die bösen Alpträume erinnere, die mich kurz vor dem Aufwachen überkommen. Vorletzte Woche träumte ich, ich hätte meinen eigenen Roman aus dem Regal einer öffentlichen Bibliothek gezogen, das Buch aufgeschlagen und auf jeder Seite hätten am Rand dicht an dicht handschriftliche Anmerkungen, Kommentare und Verbesserungsvorschläge gestanden, die ein/e Nutzer:in der Bibliothek zwanghaft hineingekritzelt haben musste. Ein Traum aus der Kategorie „Nackträume“, die sich auf Scham und apriorische Schreib- und Publikationsängste beziehen. Erleichtert wurde ich mir nach dem ersten Kaffee gewahr, dass es unter der hier vorliegenden URL weder eine Kommentar- noch eine Mailantwort-Funktion gibt. Puh, nochmal Glück gehabt! :)
Um die Kommunikation zur Außenwelt aufrechtzuerhalten, benötige ich einen Kugelschreiber, Papier und Umschläge für die vielen Briefe, die ich in der Woche in der Postfiliale in der Kreuzstraße aufgebe. Dass ich keine Briefumschläge mehr habe, fiel mir just in dem Moment ein, als ich letztens mit dem Fahrrad die Marie-Reinders-Realschule passiere. Vom Schulhof der konventioneller Pausenlärm, vor dem Schulgebäude sitzen zwei Mädchen, die Schulaufgaben durchgehen.

Marie-Reinders-Realschule, klick hier zum Hören:

Und ein paar Meter weiter sah ich schon die nächste von gefühlt 100 Milliarden TEDi-Filialen in dieser Stadt (in Wirklichkeit sind es nur 200 im gesamten Ruhrgebiet, die TEDi-Zentrale liegt in Asseln, die erste Filiale wurde in Hagen eröffnet), gleich gegenüber des Hörder Bahnhofs. Ich möchte jetzt wirklich keine Werbung für diesen Laden machen, hab auch schon einmal krasse Kopfschmerzen da gekriegt, aber Schreibwarenläden sind rar gesät, da übernimmt halt TEDi das Kommando. Jedenfalls betrete ich den Laden, greife in einem der engen Gänge nach den Umschlägen und während ich zur Kasse laufe, ziehe ich schon den Euro aus dem Portemonnaie. Vor mir in der Schlange eine Russin mit zwei Kindern, verstehe deren spannende Unterhaltung nicht, weil ich nur ein halbes Jahr Russisch in der elften Klasse hatte. (Ich weiß aber, dass Butterbrot Butterbrot heißt und Banane Banan.

TEDi Hörde, klick hier zum Hören:

Ein paar Tage später telefoniere ich mit meinem Bruder, er hat Slawistik studiert und gibt mir die ungefähre Übersetzung des Mutter-Kind-Dialogs wieder. Da wir danach noch über die bald anstehende Einschulung seiner Tochter sprechen, vergesse ich den präzisen Ablauf des spannenden Dialogs, der in etwa folgendermaßen zu übersetzen ist:
Mutter (zu Kindern): Ihr sollt hier bleiben!
Kind: Guck mal, der Laden heißt Tedi.

:) Vielleicht sollte ich nicht überall mein Aufnahmegerät draufhalten :) Aber insgesamt finde ich Audioaufnahmen von Kassenpiepen im Kontext der gegenwärtigen Zeitgeschichte nicht irrelevant, in zehn Jahren klingen Kassen womöglich ganz anders.


Samstag, 25.05.2024 – Dortmund gegen Rechts-Demo
Leider muss ich gestehen, dass ich nicht allzu gerne auf Demos gehe. Dass man für eine Sache einsteht, ist gut und richtig!! Aber sobald es eventmäßig und festivalesk wird, wird mir ganz bang ums Herz und ich frage mich, was das soll. Auch bin ich kein großer Fan von Flaggen. Wieauchimmer. Ich möchte mich nicht weiter erklären müssen, heute jedoch gab ich mir einen Tritt in den Hintern, Impulsgeber war sicher auch der Gedanke an mein Aufnahmegerät, das tatsächlich so einige schöne Lieder auf der Veranstaltung einfangen konnte und natürlich auch dieser allgemeinen rechten Kackscheiße, die uns alle gerade umgibt, doch auch etwas antgegenzusetzen. Palitücher habe ich auf der Demo nicht gesehen, was ich sehr angenehm fand, während in Berlin gerade Unis besetzt werden.
Und während der Emorocker aus dem benachbarten Hinterhaus bei geöffnetem Fenster seine Softrockschlager hört und an den gefühligsten Stellen dazu mitplärrt (übrigens dieselben Songs, die er schon vorletzten Samstag aus seiner Wohnung ließ, er scheint so eine Playlist zu haben, es ist nicht gänzlich schlecht, er hört auch so Fleetwood Mac Hippie Kram, is sicher 'n weicher Typ, kenne ihn nicht, hab ihn auch noch nicht gesehen), übertrage ich die Soundfiles von meinem Aufnahmegerät auf meinen Rechner und bringe sie ein wenig in Ordnung, so dass jeder etwas davon hat. :)
Ich habe heute auch ein paar Fotos von den Musikern gemacht, aber die lasse ich diesmal einfach mal weg, um meinem klangfokussierten Konzept treu zu bleiben und auch weil ich Fotos von Demos auch nur für historische Zwecke dienlich finde und auch damit sich die Leserschaft nicht einfach durch die Bilder scrollt.
Die Reden, die auf dem Platz am Adlerturm gehalten wurden, habe ich nicht mitgezeichnet. Ich starte dort, wo die Menge aufgerufen wird, sich in einem geschlossenen Zug Richtung Westenhellweg zu machen. Am Ende dieser beliebten Einkaufsstraße soll dann die Menschenkette gebildet werden. Nachdem der DJ auf dem Podium den Gassenhauer "schrei nach liebe" angeschmissen hat, bewegt sich die Masse also Richtung Einkaufsstraße.
Der Zug schreitet so langsam voran, dass man die ganze Zeit aufpassen muss, nicht irgendwem auf den Fuß zu treten. Als es mir doch einmal passiert, ist mir das so unangenehm und ich entschuldige mich bei dem älteren Herrn, der das auch eher lustig findet, bei so vielen Menschen passiert sowas ja schonmal, meint er.
Eine aus drei Männern bestehende Bläsertruppe, führt den Zug an, trötet ununterbrochen, fast festlich, als wir in den Westenhellweg einbiegen verstärken sich die friedlichen Karnevalsvibes, die nur selten durch kurze Sprechchöre mit Slogans wie „Ganz Dortmund hasst die AfD“ oder „Alle zusammen gegen den Faschismus“ übertönt werden. An einzelnen Stationen des Wegs stehen verschiedene Gruppen von Sängern und Instrumentalisten, die den friedlichen Zug mit ganz individuellen Darbietungen musikalisch anreichern, so an der Stefanstraße eine Sängerin, ein Chor mit dem Poster „Sing bunt statt braun“ in der Nähe der Reinoldikirche mit „Bella Ciao“ oder, kurze Zeit später ein peaciger Chor mit „sag mir, wo die Blumen sind“ oder ein Steeldrum-Saxophon-Duo vor C&A. Ein sehr vielfältiges Programm und man den Musikern merkt man die Freude am Engagement an. Hier die Soundfiles, darunter geht der Text weiter.

Nach Kundgebung am Adlerturm, klick hier zum Hören:

Bläsertrio, Bella Ciao, klick hier zum Hören:

Chor, Bella Ciao, klick hier zum Hören:

Alle zusammen gegen den Faschismus, klick hier zum Hören:

Ganz Dortmund hasst die AfD, klick hier zum Hören:
Sängerin, Stefanstraße, klick hier zum Hören:

Saxofon und Steeldrum vor C&A, klick hier zum Hören:

Sag mir, wo die Männer sind, klick hier zum Hören:

Unter Sonnenschirmen an Bistrotischen betreiben einige politische Parteien Wahlwerbung, muss von mir aus nicht sein, weiß ja schon, was ich wähle, aber finde sowas immer gut wegen der Kugelschreiber, die man da bekommt, der Aufdruck lässt sich ja notfalls immer mit einer scharfen Fingernagelkante abkratzen. Ich hab mal einen orangefarbenen von der CDU in meinem Mäppchen gefunden und mich immer gefragt, wie der da wohl hingekommen ist, war mir in der Stabi immer richtig peinlich und habe gehofft, dass sich niemand einen Kuli bei mir ausborgen möchte. Mein Sohn hat von Den Linken in Friedrichshain mal ein Magnum-Eis bekommen, was er auch sehr nett fand. Einige Vertreter DER PARTEI laufen hier auf dem Westenhellweg wie lebendige Litfasssäulen in einer TV-Show mit lustigen Plakaten rum.
Gemächlich schreitet der Zug voran und erreicht keine zehn Minuten später das Ende des Westenhellwegs. Ich sehe noch, wie der Oberbürgermeister an die Spitze der Demo eilt, um sich für Pressefotos mit hinter das Banner zu stellen, stehe eine Weile mit in der Kette und löse mich dann aus der Menge; mehr als 160 Minuten halte ich es leider nicht in lautem Gewimmel aus.


24.05.2024
Glücksorte Dortmund: Der Südwestfriedhof
Jeder Friedhof klingt wie die an ihn angrenzende Straße. Im Fall des Südwestfriedhofs ist es die A40, die sich im Süden als Gürtel um die inneren Bezirke legt und den historischen Friedhof und seine Besucher mit urbanem Meeresrauschen beschallt. Die Besucher des Südwestfriedhofs geben sich einfachen Freizeitbeschäftigungen hin. Eine Frau geht mit ihrem Hund an der Leine spazieren. Um den dicken Stamm einer Linde winden sich zwei Eichhörnchen beim Fangenspielen. In der Ferne höre ich einen Jungen Fußball spielen, kurz blitzt ein gelber Fußball zwischen zwei Gräbsteinen hervor. Ein junges Pärchen sitzt via-à-vis der Kriegsgräberanlage und trinkt Radler, die Sonne geht knapp unter, das letzte Licht legt sich wie ein dunkelgelber Filter über die ordentlich aufgereihten alten Grabsteine. Auf dem Denkmal für die 523 Kriegsopfer des Ersten Weltkriegs hat jemand eine Bierflasche abgestellt, dahinter auf einer Bank wird einvernehmlich gekifft, ich rieche es bis hier her, das Aroma der Marihuanastängel vermengt sich synästhetisch mit dem Autobahnrauschen.
Ich hatte es schon einmal in meinem Tampere Blog erwähnt; Friedhöfe sind die einzig wahren historischen Zentren einer Stadt. Schön auch, dass es hier kein WLAn gibt, da bleibt man mir seinen eigenen Gedanken so schön allein :)

Glücksort Südwestfriedhof, klick hier zum Hören:
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Auf dem Südwestfriedhof ist außerdem der Dortmunder Autor und Fotograf Erich Grisar begraben, dessen unveröffentlichtes Werk sich das Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in den letzten Jahren widmete. Am Mittwoch war ich dort, um mir zwei Romane von Grisar anzuschauen, aus denen ich auf dieser kleinen Stadtbeschreiberinnen-Website nächste Woche lesen und schreiben werde.


Lidl, Tremoniastraße
Ein windiger heißer Wochentag im Mai. Eine Frau rollt einen Einkaufswagen über die Tremoniastraße Richtung Lidl. Im Wagen sitzen drei kleine Jungen. Offenbar hat sie ihren Einkauf zuvor nach Hause geschoben und bringt den Wagen nun zurück zum Discounter. Als sie den Parkplatz erreicht, tritt eine Kundin aus dem Laden, in ihrer Hand eine Doppelleine mit zwei kleinen Yorkshire Terriern.
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Tremonia Lidl, klick zum Anhören:


22.05.2024
F während eines Telefonats: „Chrizzi, vergiss nicht den Jazz! Dortmund ist Jazzstadt! Vergiss den Jazz nicht, Chrizzi!“
C: „Ja, ich weiß, war auch schon im Fritz Henssler Haus, muss noch zu der free jazz session am dritten Donnerstag. Aber ich dachte auch: creative industries Techno. Phoenix-Techno, Tresor.West, ne?“
X, Taranta Babu, 23:20 Uhr: „Du hättest dem Johnny sagen sollen, dass du Stadtbeschreiberin bist! Dein ethnografischer Blick... etc pp.“
Y: „Fußball, Chrizzi, vergiss den Fußball in der Stadt nicht!“
Z gegen 2:20 Uhr: „Deindustrialisierte Städte werden zu IT-Städten, oder?“
C: „Vorhölle Thier-Galerie.“

Leute, ich bleibe dran, ich habe alles auf dem Schirm, sammel wie ein Berserker, habe jedoch auch meine eigene Perspektive zu wahren. Deshalb zwischendurch ein bisschen easy listening (siehe Tremonia-Lidl). :)


Ein Samstag Abend. Signal Iduna Park [11.05.2024]
Selbst Fußballstadien sind in Dortmund Kraftwerke, selbst an spielfreien Tagen.
Ein lauer Samstagabend, Fußballfans in zivil bummeln aus dem Kreuzviertel gen Süden über die BVB-Brücke, überqueren die B1, um sich in den Biergärten des Stadions einzufinden. Vor den Biergärten Mauern, die den Verkehrslärm von der Strobelallee filtert. Zwei kleine Jungs in gelben Trikots kicken einen gelben Ball gegen die Mauer. Auf den Trikots steht „Reus“. Achso, Reus wird gar nicht mit „oi“ geschrieben, denke ich. Im „Biergarten im Stadion Rote Erde“ ist viel los, Biergläser werden angestoßen, mit Geschirr geklimpert, englische Touristen unterhalten sich über Fußball. Eine Anlage beschallt die Biertische mit „Don't know much about history.“
Auf dem Weg zum anderen Biergarten („Strobels“) entlang der Mauer werde ich von zwei Typen angequatscht, die sich zum Biertrinken mit Kioskbier verabredet haben.
„'tschuldigung, wissen Sie, wo Marco Reus ist?“, fragt mich der eine.
„?“, ich zucke mit den Schultern und schaue mitfühlend.
„Ich dachte, Sie wissen vielleicht, wo der wohnt...“
„Ich wusste bis vor 'ner Woche nicht mal, wer das ist.“
„Ist ne Legende hier“, sagt der eine.
„Ja, ich weiß, mittlerweile.“
Ich setze meinen Weg fort Richtung Stadion und BVB-Fanwelten (einem großen BVB-Goodie-Laden, der abends nicht geöffnet hat). An einer riesengroßen LED-Wand werden die spektakulärsten Fotos der letzten beiden Spiele Dortmunds gegen Paris gezeigt. Zwei Fans stehen davor und machen mit einem Selfiestick Fotos von sich und der Wand und freuen sich, dass sie sich mit einem Bild von Marco Reus eingefangen haben: Marco Reus, vor Jubel schreiend und mit prallen Schläfenadern, so prall, dass sie gleich zu platzen drohen.
Ich nähere mich dem Stadion, still und starr steht es da. Am Gitter eines Eingangstors die Stadionregeln. Aus dem Gebäude dahinter, dem leeren Stadion, kommt lautes Rauschen, wie aus einem Kraftwerk. Selbst im Ruhezustand scheint es zu arbeiten, irgendeine Energie bereitzustellen, die Fans in den Biergärten zu segnen. Selbst an spielfreien Tagen ist das Stadion ein Kraftstein für die Fans, eine Anlage, an der man sich festhalten kann, während der Nachwehen, der Hoffnung, der Spannung und Vorfreude.
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Kraftstein

Im Biergarten Strobels ist etwas weniger los. Ich überquere die Strobelalle, laufe über eine gepflegte Gartenanlage Richtung Messehallen. Ein Pulk Menschen wartet vor der Westfalenhalle, es werden immer mehr. Was denn heute hier stattfindet, frage ich eine Frau, die in Begleitung vor einer dieser schönen Blumenbeete steht, und gerade ihre Sonnenbrille auf der Stirn absetzt. Marius Müller-Westernhagen, antwortet sie. Ich erlaube mir keinen Kommentar, wünsche viel Spaß und laufe heim.
Signal Iduna Stadion – ein spielfreier Samstag, klick zum Anhören:


Dienstag, 14.05.2024 – Dorstfeld - teaser
Romance in Dorstfeld
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N8i :)


Ein Montag - Huckarde
Nachdem ich mir  das schönste Badezimmer Dortmunds angeschaut habe, fahre ich mit dem Rad nach Huckarde, um mir einen Kaffee zu kaufen. Neben dem Friedhof St. Urbanus kehre ich in eine italienische Bistrocafépizzeria ein, die so gut wie alles anbietet. Nachdem ich einen Kaffee bestellt habe, werfe ich einen Blick auf die Speisekarte. Hm hm, BVB-Pizza gibt’s hier auch, hm hm, zu meiner Enttäuschung nicht mit gerösteten Bienchen, sondern mit allen gelben Zutaten, die die italienische Küche so hergibt.
BVB Pizza

Im Raum nebenan eine muntere Festgemeinde, alle in schwarz gekleidet, offenbar eine Trauergesellschaft, die heute morgen auf einer Beerdigung auf dem Friedhof nebenan war. Dabei fällt mir ein, dass wir nach dem letzten Begräbnis, auf dem ich war, auch in einer Pizzeria einkehrten. Riesenpizzas, die über die Tellerränder ragten, verdrängten für ein Paar Momente den Schmerz. Die Trauergesellschaft hier ist gerade beim Espresso angekommen und es wird schon wieder laut gelacht. Draußen hat ein Fahrtendienst geparkt, um Trauergäste abzuholen. Eine ältere Dame fährt mit Hilfe von Rollatoren zur Toilette und dann aus dem Restaurant, um sich mit dem Fahrer abzusprechen.



Freitag, 09.05.2024: Spaziergang durch den Westpark während Parkfest 2024
Ein heißer Frühlingsfreitag. Die Sonne knallt die Möllerstraße hinab. Wir suchen Schatten im Westpark, tiefe Dubbässe, Frauengesang: aus Boxen. Der DJ auf der Festivalbühne. Davor Schatten unter Bäumen und Bierbänke. An den Bierständen noch wenig los. BBQ. Ein Zelt mit 2nd Hand Kleidung, Jacken und 90er-Jahre Hemden, Klackern von Stahlbügeln an Kleiderstangen. Wir laufen den Parkweg entlang. Nähern uns der Bühne, Soundsystem wird immer lauter, Vögelgezwitscher konkurriert mit der Musik.
Rechts der Holzspielplatz, Kinder toben sich aus. Vier Tischtennisplatte, Bälle schmettern auf Steinplatten. Ein kleines Kinderkarussell mit volkstümlichem Bibabutzemann-Schlager, Mütter gröhlen. In der Ferne thront die Hüpfburg. Unterhaltungen auf deutsch, Unterhaltungen auf türkisch, Unterhaltungen auf russisch, gebrochen deutsch und französisch, türkische Männer verkaufen Tee, Frauen Lahmacun, Köfte und Dolma. Der Bass der Festivalbühne stampft sich durch den Park, Menschen sitzen auf Bänken unter Bäumen, hören Musik aus Lautsprechern ihrer Smartphones, französischer HipHop. Der Dub-Bass von der Festivalbühne entschwindet in der Ferne, Vogelgezwitscher wieder zu vernehmen. Verlassen des Parks durch den Ausgang Müllerstraße, Höhe baufälliger Rewe.
Spaziergang durch den Westpark während Parkfest, klick play:




Donnerstag, 08.05.2024
Ich habe in der html-Datei ein paar "target-blanks" eingefügt, so dass sich die links in neuen tabs öffnen, was etwas leserfreundlicher ist. :)
Habe Besuch und war ein zweites Mal auf dem Südwestfriedhof. Kurzeintrag darüber demnächst. Mir wurde erzählt, dass dort ein Autor (ich meine nicht Huelsenbeck!) begraben liegt, nur konnte man mir den genauen Namen nicht nennen. Wer es weiß, darf mir gern mailen, ich würde dann beizeiten ein paar Texte von ihm heraussuchen und teilen.
Schönes Feiertagswochenende an alle!


Mittwoch, 08.05.2024, I
Während des Spiels St. Germain gegen Borussia, das ich über mein Notebook gehört habe, verkabelte ich meine LOM-Sensoren mit dem Aufnahmegerät. LOM-Sensoren sind in der Lage, elektromagnetische Wellen in Klang zu übersetzen, es sind also kleine spezielle Mikrofone, die sich bloß auf elektromagnetische Felder konzentrieren, und die akustischen Phänomene, die das menschliche Ohr wahrnimmt, akustisch nicht verarbeiten. Angeschlossen an ein Aufnahmegerät mit output, an die man zB Kopfhörer anschließt, kann man die durch die Sensoren erfassten Signale dann hören. In Spielminute 80 machte ich dann also eine Audioaufnahme von meinem Notebook. Die Aufnahme der elektroakusitischen Wellen des Notebooks während des Fußballspiels unterscheidet sich natürlich merklich von den Aufnahmen, die ich machte, als ich auf meinem Notebook ein .pdf las. Muss mal schauen, wie es beim Finalspiel klingt oder wenn ich das Internet ganz ausschalte.
Unten kann man die Audioaufnahme hören, darunter noch ein Bild von meiner Hand mit den Sensoren vor dem Laptop. Leider etwas verwackelt; eine sehr nette Bekannte aus Dortmund, die ich letztens kurz in Berlin sah, kommentierte schon nach Ansicht des Fotos, sie hätte auf den ersten Blick gedacht, PAR würde gegen DDR spielen. :) Dies erinnerte mich daran, wie ich auf einer Residenz mit belarussischen Freunden in Graz während der WM beim einem Spiel mit Belgien (BEL) dachte, Belarus sei am Ball. Als Amateurzuschauerin der WM darf man sich schonmal den Spaß erlauben, ganze Nationen auszuwechseln.

Lom-Aufnahme St. Germain Paris gegen Borussia Dortmund, klick play:

Hand
Aufnahmen mit den LOM-Sensoren

Der Kommentator des Spiels war wie erwartet verlässlich onkelig. In der Halbzeit gute Analyse-Laberperformance der Profis inkl. einer weiblichen Vertreterin des Fußballs, sie leider mit defektem Mikro. Nach dem Spiel und dem Sieg der Borussen hörte ich draußen noch zwei kleine Chinaböller, vermutlich von einem Fan gezündet, es klang aber auch eher lustlos, wie das allerletzte Böllern in der Silvester-Afterhour eines zweiten Januars.


Dienstag, 07.05.2024 - Über Fußball, Kapitel I
Ah, in ein paar Stunden ist es soweit, das Halbfinalspiel Borussia Dortmund gegen Paris Saint Germain findet heute Abend statt, nicht dass es mich wirklich interessiert, aber ich habe mir schon mal ein blaues T-Shirt rausgelegt und habe vor, mir gleich noch einen edlen Château Haut-Brion, Jahrgang 2020, zu kaufen, bei Edeka, wo es diese große Auswahl an BVB-Fanartikeln und eine kleine Abteilung an Haushaltswaren gibt, und ich mich gestern gefragt habe, weshalb die hier noch keine BVB-Knoblauchpressen im Sortiment haben.
Gern erzähle ich die Geschichte über den Stadionbesuch für ein Spiel von Turbine, dem Frauenfußballverein Potsdams, auf dem ich mit meinem Sohn (damals 4 Jahre alt) und meinem Neffen (Gladbachfan und mittlerweile knallharter Jungschieri) war. Mein Sohn fragte nach etwa zwanzig Minuten Spielzeit, wann denn die Männer spielen. Er fragte nicht, wann denn endlich die Männer spielen, er blieb da relativ neutral. Aber er hielt das Spiel von Turbine gegen die andere Frauenfußballmannschaft eben bloß für so etwas wie die Vorband des eigentlichen Programms. Die kleine Geschichte sagt so viel über diesen Sport aus. Eigentlich bin ich an so ziemlich allem interessiert, außer halt an Fußball. Das stimmt nicht ganz, das Entstehen der Fangemeinde und die korrupten Verquickungen dieser Ballsport sind natürlich hochspannend.
Entzückend finde ich es natürlich auch, wenn hochdurchgeistigte Akademikerfreunde von ihren Bundesliga-Samstagen auf ihren Sofas bei Chips und Cola erzählen, nein, eigentlich erzählen sie davon nicht wirklich, man kriegt nur mit, dass das halt irgendwie regelmäßig bei denen, oft sind sie dabei allein, stattfindet. Faszinierend natürlich auch, dass sich die Liebe zu Fußball durch so ziemlich alle Klassen und Generationen zieht. Wenn mir Leute berichten, wie sie zum Fußball kamen und Fan wurden, kann es schonmal unangenehm gefühlig und nostalgisch werden, beschwörend erzählen sie dann, welches ihr erstes Spiel im Stadion war, welche Mannschaft sie damals weshalb auserkorten, welchen Vereinen Brüder und Väter nachhingen. Für eine Freundin von mir, die mich einmal auf ein FC-Köln-Spiel mitnahm und mich mit all dem Hintergrundwissen zu den Geißböcken aus dem Kölner Zoo versorgte, war ihre Fußballliebe eng mit ihrer Beziehung zu ihrem Vater verknüpft, der sie an das Fantum heranführte. Um es lapidar auszudrücken, Fußball ist mit tiefen in irgendeiner Vergangenheit verankerten Emotionen verbunden. Das ist ok. Was mir eher Angst bereitet, ist dieses Kollektive, das Größenwahnsinnige, die Massenbegeisterung, die Dopaminausschüttung, oder was immer da im Körper passiert. Konzentrierte Spielbeobachtung und Mitfiebern finde ich übrigens iO, vielleicht ist es wie wie das Lesen eines spannenden Buchs. Doch wenn zu übertrieben gebannt geschaut und in den Bildschirm gebrüllt wird, als gehe es um Leben und Tod, verziehe ich mich. Irgendwie fehlt da der Bruch, die Ironie, die Meta-Ebene. Ich verstünde es einfach nicht, mag man schimpfen. Aber doch! Ich verstehe es, den Anflug der Massenbegeisterung, ich habe ihn doch selbst sicher mal gespürt. Aber er ist mir zu überwältigend, unangenehem, als würde man bei einem Autounfall zuschauen. Es hat nichts mit mir zu tun. Dieses Gefühl, das mir von Außen aufgedrückt wird. In den EM- und WM-Saisons kommt man nicht drumrum, es mitzumachen, vielleicht wie ein Nichtraucher, der sich einer Raucherkneipe zwar kontemplativ einräuchern lässt, aber nicht richtig inhaliert. Ab wann macht man richtig mit, wann gehört man überhaupt dazu?
Klar interessiert es mich, was in beiden Fällen (Gewinn oder Verlust der Borussen) hier in der Stadt (auch klanglich) so geschieht. Das Amazon Prime Probeabo, das mir das ein oder andere nüchterne Fußballstündchen bescheren wird, habe ich selbstredend nur für die Zeit in Dortmund abgeschlossen. Stadiongeräuschkulissen von gestreamten Spielen, die aus den Notebookboxen kommen, finde ich komischer Weise beruhigend. Man kann so schön dabei lesen oder schreiben. Ich ziehe mein blaues Shirt über und mache mich mal auf den Weg ins Südbad und dann zu Edeka.


Dienstag, 07.05.2024: Künstliche Songs über Dortmund

Als sich ChatGPT und andere kreative KI-Maschinen sich vor ein paar Jahren auf den Horizontlinien der Monitore abzeichneten, führte das zu einem allgemeinen Hype, aber auch zu der Angst, eine artifizielle Macht würde den Menschen auch bald seiner künstlerischen Fähigkeiten enthaupten. Unter Autor:innen der Neid vor dem Tempo der KI beim Schreiben eines Romans. So teilte ein Freund bei freakbook einen Artikel aus dem Guardian, der – after AI concerns - die Begrenzung der Anzahl der täglichen Veröffentlichungen von Büchern auf drei Romane behandelte. Ich fand es so lustig und absurd, hatte ich doch etwa drei Jahre an meinem zweiten Roman gesessen und suchte schon seit Monaten nach einem freundlichen Verlag.

Was waren das wohl für Texte, die mittels KI entstanden? Medien- und Literaturwissenschaftler gaben sich fortan dem Experiment hin, genau dieser Frage nachzugehen, teils wissenschaftlich, teils essayistisch. Vermutlich wurden auch ganze Lehrstühle auf den Plan gerufen, DFG-Anträge zu schreiben, die den Nutzen und Nachteil von KIs und die Frage nach ihrer eigentlichen Intelligenz aufzuklären – selbstverständlich mittels empirischer Methoden. Vorabergebnisse wurden stolz im Internet präsentiert und unterschieden sich kaum von jenen Ergebnissen, welche die außeruniversitäre Bevölkerung längst selbst schon in ihren autoethnografischen Alltagserfahrungen mit der KI erbracht hatte.
Auch ich verbrachte einen Abend lang mit ChatGPT, um mich mit ihr über Martin Kippenberger (er ist übrigens in Dortmund geboren! ich mag seine Arbeiten sehr!) zu unterhalten. Eigentlich ging es mir, wie vielen anderen, nur darum, herauszufinden, wie ChatGPT so tickt. Offenbar hatte sie genügend Infos über Kippenberger eingeholt, um mir bereitwillig jede trickreiche Frage zu beantworten. Welche Meinung sie denn dazu hätte, dass Kippenberger oft Frauenfeindlichkeit nachgesagt wird, fragte ich, und sie konnte – sogar inkl. einer kurzen künstlerischen Rezeption – erörtern, dass es sich natürlich um eine negative Darstellung Kippenbergs handelt, die es dringlich aus dem Weg zu schaffen gilt. Eigentlich war mir ChatGPT von Anfang an sympathisch, doch erschien sie mir auch ein wenig schlicht. Als ich sie des Weiteren auf die Probe stellte und fragte, ob sie mir Hintergrundinformationen über den Musiker Istari Lasterfahrer (ein Hamburger Breakcore Produzent mit bürgerlichem Namen Felix Raeithel) liefern könne, erzählte sie mir, bei jenem Künstler handele sich um Jens Brinkmann, einen Bremer House-Produzenten. Ich habe laut gelacht, scheinbar war sie nicht mal in der Lage, Informationen aus alten MySpace oder Wiki-Seiten herauszusaugen.
In Bezug auf ihre Kippenberger-Auseinandersetzung machte ich mir oft Gedanken darüber, ob sie vielleicht einfach nicht schlecht über Personen reden wollte, denn - so erklärte mir ein Freund: ChatGPT bleibt von Anfang bis Ende höflich, egal, was du schreibst. Wenn man zwei ChatGPTs sich miteinander unterhalten lässt und sie beauftragt, miteinander in ein intimeres tête-à-tête überzugehen, bliebe es grundsätzlich beim Plaudersmalltalk, wobei ich das wiederum recht nett und auch realistisch finde.
Höflichkeit ist ja erst einmal gut. Was mich wirklich ernüchtert sind „intelligente“ Wort- oder Satzvervollständigungsfunktionen auf dem Smartphone. Nur weil es mir vorgeschlagen wird, tippe ich ein „kein Problem“, oder ein „alles klar!“, obwohl ich das früher eher zu prompt für eine Antwort gefunden hätte. Plötzlich kommuniziere ich botmäßig wie alle anderen auch, individuelle Subtexte oder niedliche Rechtschreibfehler gehen verloren, ich spüre das sprachliche Gleichmaching, dem jeder Charme abhanden kommt, und ärgere mich nach wie vor über fehlende Kommata.:) Oft nehme ich Wort- und Formulierungsvorschläge im Smartphone einfach so an, obwohl sich solche Floskeln für mich immer noch so gestresst anfühlen, fix und für die schnelle Reaktion werden irgendwelche Wortbuttons gedrückt. Meine Beobachtung hat gezeigt, dass sich dieser abgebrochene Schreib- und Sprachstil bei manchen Leuten auch im analogen real-life-Verhalten und ihren Telefonstimmen widerspiegelt.

KI-Songs über Dortmund
Zurück zu Dortmund und seiner musikalischen Vertonung: Eine beträchtliche Attraktivität gewann das kreative (?) Vermögen der artifiziellen Intelligenzen, als ich mitbekam, dass man in Nullkommanichts ganze Songs komponieren lassen kann. Die KI textet (mit oder ohne vorgegeben Stichpunkten) ganze Strophen und einen zumeist tatsächlich ohrwurmmäßigen Refrain und erschafft dazu die passende musikalische Begleitung (mit oder ohne Genrewunsch).
Das Perfide an der gesamten Sache ist, dass man den Stimme, die für die Songs geschaffen werden, trotz ihrer Konservenhaftigkeit, eine brüchige Seelentiefe nicht absprechen kann.

Die Kreation eines Song über Dortmund mittels KI ist äußerst erkenntnisreich, vor allem in Bezug darauf, was die KI über Dortmund zu wissen scheint.
Mit meinem Wunsch einen Song über Dortmund zu komponieren, in dem auch das Thema "Literatur" behandelt wird, schuf Suno ein Lied mit dem Titel Graue Schatten, der nach Klick auf den Titel anzuhören ist und unten einer kurzen Interpretation unterzogen wird.

Songtext von Graue Schatten

1. Strophe
Industriestadt
Rauer Beton
Dortmunds Straßen
Ganz verzon'n
Einst war hier der Stahl zuhaus'
Heute nur noch grauer Graus

2. Strophe
Literatur und Poesie
In den Büchern
Fern der Alltagsflieh'
Doch der Fußball regiert hier laut
Das Spiel Das alles übertönt

Refrain
Graue Schatten in der Stadt
Vergangene Zeiten
Nicht mehr satt
Doch wir halten fest
Was uns bleibt
Ein Lied der Hoffnung
Das uns treibt

Textinterpretation: Einer tieferen Textinterpretation möchte ich mich nun nicht hingeben. Grauer Graus erscheint mir beim ersten Anhören etwas tautologisch und ich weiß auch nicht, was mit verzon`n gemeint ist. Deutlich zu vermerken ist dagegen in Strophe 2 der unterschwellige urbane Identitätskampf, der missglückte Versuch, Poesie und Literatur in den Alltag des durch den Fußball regierten Lärm der Stadt zu integrieren. Literatur und Poesie bleiben aus Sicht des lyrischen Ichs einfach in den Büchern.
Der Song hat mich jetzt nicht wirklich umgehauen, aber ich versuche es mal mit etwas Anderem. Ich habe in der Stadt ein paar Nashörner gesehen, die laut Wiki für die Bodenhaftung und Solidität der Einwohner steht, was ich – wenn auch ein wenig flach – doch als ganz putzig empfinde. In das Suchfeld für die Songkreation bei Suno tippe ich also folgendes: -> ein melodischer pop song über die deindustrialisierte stadt dortmund, über literatur und nashörner. Heraus kommt ein Lied mit dem Titel Schatten der Stadt.

Songtext von Schatten der Stadt

1. Strophe
Schutzlose Straßen
Stahl ohne Schimmer
Eine Stadt gezeichnet
Von Vergangenheit zerissen Dortmund
Einst ein Glanz in dunkler Nacht
Jetzt die Schatten
Die unsere Herzen packen

2. Strophe
Bücher und Worte
Mal flüsternd Mal schreiend
Literatur fließt durch die pulsierenden Adern
Wie Büffel auf der Savanne
Stark und stolz
Gedanken tanzen
Wie ein ungesehener Schau

Refrain
Schatten der Stadt
In unseren Seelen wohnend
Doch unsere Träume lassen sie langsam verblassen
Wir sind die Nashörner
Kämpfend und stark
Dortmund Die Stadt
Die in uns lebt laut und klar

Textinterpretation: Durch die Ergänzung des tierischen Gimmicks (Nashorn) ohne Zweifel metaphorisch verdichtet, auch das Träumen wird als fast kämpferische Kraft gegen die urbane Dunkelheit verstanden. Nicht so schlecht. Aber weiter geht’s, noch einen dritten Song, bitte!
Ich riskiere wieder weniger Stichpunkte und tippe in das Sunosuchfeld einfach folgendes:
-> ein fröhlicher song über dortmund
Heraus kommt ein Lied mit dem Titel Der Gelbe Himmel (Oh, jetzt hätte ich beinahe "gelbe Hummel" geschrieben).

Liedtext von Der Gelbe Himmel

1. Strophe
Ich schaue aus dem Fenster
Es ist Zeit zu geh'n
Mit meinem Herzen
voller Freude
Ich kann es kaum versteh'n
Die Sonne scheint so strahlend
Der Himmel ist so gelb
Es ist ein neuer Tag Ich fühl' mich wie ein Rebell

2. Strophe
Ich laufe durch die Straßen
Die Menschen strahlen mich an
Wir singen
Wir tanzen
Lautet unser großer Plan
Die Liebe zur Stadt
Sie liegt in der Luft
Wir sind eins mit Dortmund
Unsere Heimat
Unsere Kraft

Refrain
Oh Der gelbe Himmel über Dortmund
So wunderschön
Die Stadt der Leidenschaft
Wir lassen sie nie allein
Die Fans Die Vereine Wir sind wie ein Team

Textinterpretation Gelber Himmel?, frage ich mich, Saharasand? Offenbar bin ich noch naiver als die KI! Achso, die Fans, die Vereine, wir sind ein Team! Freundliche Menschen habe ich aber auch schon auf der Straße gesehen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Als ich dem OB an jenem Sonntag beim Meet and Greet von dem Songtitel berichte, erzählt er mir von der gelben Wand, also der Fantribüne im Stadion, die womöglich wie die Sonne leuchtet. Auch erzählt er mir von dem hellen Leuchten beim Abstich des Stahls im Stahlwerk, die die Umgebung auch nachts erhellte. Vielleicht bezieht sich die KI auch darauf.



Donnerstag, 02.05.2024 - Südbad – Innenstadt Süd
1957 erbaut, 1960 eröffnet, gilt das Südbad in der Ruhrallee als Baudenkmal Dortmunds. An den alten Fliesen an der Nordseite konnte ich mich bei den letzten beiden Besuchen gar nicht satt sehen.
Mein Aufnahmegerät habe ich im Schließfach gelassen, Fotoapparate darf man ja auch nicht mit in die Schwimmhalle nehmen.
Donnerstag Vormittag ist es richtig leer. Neben mir schwimmt eine schwarzhaarige Frau mit permanent Make-Up, auf der anderen Bahn ein älteres Paar: Sie mag so Ende achtzig sein und trägt eine silbergraue Speedo-Badekappe, er schaut etwas jünger aus und trägt eine blaue Kappe. Schwer auszumachen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, aber ganz offensichtlich haben sie sich hier im Becken zum Quatschen verabredet.
Während sie im Rückenstill durchs Wasser paddelt, schwimmt er ihr gegenüber an ihrem Fußende hinterher. Kopf und Schultern der beiden ragen aus dem Wasser. Wenn sie das Ende der Bahn erreicht haben, dreht sich dieser Zweipersonenschwimmapparat einmal um 180 Grad, und sie schwimmen in denselben Stil zurück, den Blickkontakt während des Gesprächs haltend, als würden sie sich mit Badekappen an einem Tisch gegenüber sitzen, der unter der Wasseroberfläche seine Bahnen zieht.
Wenn ich an ihnen vorbeischwimme, schnappe ich Teile ihrer Unterhaltung auf. Sie erzählt, dass sie in den 60er Jahren in Frankreich war, offenbar nicht mit ihrem Badefreund, vielleicht mit ihrem verstorbener Mann, vermute ich. Ihr Schwimmfreund hört angeregt zu. Es war in der Bretagne, erzählt sie, die Franzosen sprachen kein deutsch und sie kein Französisch, mit Händen, Füßen und viel Lachen hätte man sich verständigt. Auf Malle können alle deutsch, meint sie. Worauf ihr Badefreund sagt, da würden auch viele Spanier Urlaub machen, die kein deutsch könnten. Es sind keine weltbewegenden Gespräche, die die beiden da führen, aber in dieser Konstellation erinnern sie mich an einen schwimmenden Podcast, dem ich beim selber schwimmen gern zuhöre.

suedbad
Ein schwimmender Podcast, dem ich gern zuhöre

In den Duschen treffe ich auf eine Mittzwanzigerin, die mir erzählt, dass sie hier in Dortmund nur zu Besuch ist und eigentlich aus Köln kommt. Bin ich ursprünglich auch, sage ich und frage, wo in Köln sie denn genau lebe.
Naja, eigentlich nicht direkt Köln, gibt sie zu, komme aus Bergheim. :)
Später beim Haareföhnen treffe ich das Schwimmpodcast-Pärchen wieder. Gemeinsam verlassen sie das Bad. Ich ziehe mir im Automaten eine Fünferkarte.

Am Folgetag bin ich spät dran, erst am Nachmittag schaffe ich ins Bad. Das Becken ist voll, verschiedene Kinderkurse belagern die Bahnen. Ältere Kinder, die von ihren hitzigen Trainern beim Rückenschwimmen angebrüllt werden: Hintern hoch, schneller Paddeln, Körperspannung! Und Sechsjährige, die am Beckenrand sitzen, unsicher mit den Beinen strumpeln, die Füße knapp über der Wasseroberfläche, und sich nicht trauen, den halben Meter ins Wasser zu springen. Erst als ein freundlicher Trainer selbst ins Becken geht und ihnen anbietet, sie aufzufangen, wagen sie den Sprung. Ich habe fast vergessen, dass ich 2006 bei einer Jobsuche in Berlin selbst mal ein Vorstellungsgespräch als Schwimmtrainerin für Kleinkinder (Kinder, die kaum sprechen konnten!) hatte. Die ganze Sache hatte mich damals so beeindruckt, dass ich sie in einer einfach geschriebenen Email an Freunde festhielt, die man bei Klick auf Email nachlesen kann.