Stadtschreiberin Dortmund 2024

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Ab Mai 2024 ist Chrizzi Heinen Stadtschreiberin in Dortmund.
Texte, die sie während ihrer Residenz verfasst - und womöglich auch Audiodateien - werden auf dieser Seite dokumentiert.
Der aktuellste Beitrag steht jeweils oben.



Donnerstag, 24.10.2024. Umzäunte Industrieskelette und ein Denkmal für Gastarbeiter*innen

Als ich an einem anderen Tag nach einem Besuch des Fritz-Hüser-Instituts in Bövinghausen mit dem Fahrrad Richtung Zentrum zurückfahre, komme ich bei Marbos vorbei. Gegenstand dieses Unternehmens sei der Handel mit Sanierungssystemen für die Instandsetzung und Restaurierung von Bauwerken sowie der Handel mit Spezialbaustoffen, informiert mich die Website.
Klick hier, um der Hallerey zu lauschen:


Ein industrielles Rauschen, das von der Arbeit (analoger) Maschinen herrührt, ist in dieser Stadt eine Seltenheit. Dabei zeugen die vielen Ruinen der Zechen und Werken und die toten Bahngleise von einer ehemals lauten Stadt, einer lauten dreckigen Stadt.
Vormals hochindustrialisierte Städte werden im Zuge der Deindustrialisierung zu Hochburgen der IT-Branche, behaupten stadtsoziologische Quellen – auch über Dortmund. Eigentlich hatte ich vor, noch ein Großraumbüro von Innen zu besuchen und akustisch aufzuzeichnen. Meine Vermutung ist, dass die Mitarbeiter:innen solcher Büros (spätestens nach Corona) alle in Heimarbeit leisten, das unhörbare Rauschen der elektromagnetischen Wellen der Computer (siehe Eintrag vom 08.05.2025) innerhalb der eigenen vier Wände lauert.
Natürlich frage ich mich, was mit Phoenix-West, dem Stahlwerk, das wie ein von Stacheldraht umzäuntes Dinosaurierskelett in Hörde steht, eines Tages geschehen wird. Inwiefern der Titel „kulturelles Erbe“ alle vergangen Praktiken beschönigen mag und dass ein Denkmal für Gastarbeiter, wie es im Mai 2024 im Taranta Babu mit ehemaligen Werksarbeitern diskutiert wurde (ich habe die Diskussion aufgezeichnet, bei Interesse für die Audiodaten gern melden!), doch mehr als dringlich erscheint. Wer möchte, kann hier eine rohe Aufzeichnung der Diskussion über das Denkmal für Gastarbeiter*innen, die am 21.05.2024 im Taranta Babu stattfand, nachhören:






Mittwoch, 23.10.2024. Die Hallerey

Auf dem Weg nach Kirchlinde passiere ich die Hallerey, ein Naturschutzgebiet in Dorstfeld. Durch die dichten Hecken im Sumpfgebiet erspähe ich einen großen See, der laut Wiki damals für die Kohlewäsche der Zeche Dorstfeld genutzt wurde. Heute ist der See Schutzraum für seltene Schmetterlings-, Amphibien- und Vogelarten. Ich schalte mein Aufnahmegerät an und als ahnte die Fauna es, drängt sich der Gesang von Vögeln in das Geschehen, auch Kröten machen sich akustisch bemerkbar. Im Hintergrund auf der Aufnahme das Rauschen, das vom Marbos-Werk herüberweht.

Klick hier, um der Hallerey zu lauschen:



Freitag, 18.10.2024, Spaziergang durch die Nordstadt, vom Borsigplatz bis zum Hoesch Museum, Station 1

Borsiggrill
Durch die Scheiben des Borsiggrills am Borsigplatz leuchten die braunen Krusten von gleich drei Dönerspießen. Das muss ich mir mal näher anschauen. Im Laden kauf ich mir ein Ayran, schwarzen Tee gibt es leider nicht, obwohl es den früher ja immer zu jedem Gericht im Dönerladen kostenlos dazugab.

borsiggrill

Borsiggrill, klick hier zum Hören:



***Veranstaltungstipp*** Die Bodo-Tour

Bevor ich später ein paar Stationen in der Nordstadt aufliste, möchte ich auf eine regelmäßige Veranstaltung aufmerksam machen, die Bodo e.V. jeden zweiten Samstag veranstaltet, nämlich einen etwa einstündigen Spaziergang durch die Nordstadt aus Sicht eines ehemals obdachlosen Mitarbeiter des Vereins, der den Teilnehmer:innen den Alltag, die wichtigsten Orte und Anlaufstellen zeigt und äußerst persönliche Einblicke gewährt, die die Sicht auf das Leben auf der Straße verändern. Ich empfehle die Tour sehr, sie findet jeden zweiten Samstag statt und startet um 11 Uhr am Nordmarktkiosk in der Mallinckrodtstr. 65. Unter touren@bodoev.de kann man sich unverbindlich anmelden.


***Veranstaltungstipps, Lesungen in Dortmund und Gelsenkirchen nächste Woche
Lesung am Freitag, 21. Oktober aus meinem Roman Tropicalia Passagen in der Buchhandlung Readymade in Gelsenkirchen, Bochumer Straße 108, um 18.30 Uhr.
Am 24. Oktober lese ich aus dem Roman im Literaturhaus in Dortmund, Neuer Graben 78, um 19.30 Uhr.
gd


Freitag, 11. Oktober 2024. Literaturtaler 2024 an Hasan Şahin.
Preisverleihung am 12. September 2024 im Taranta Babu. Akustische Dokumentation.


In einer feierlichen Zeremonie am 12. September wird Hasan Şahin, der vor 45 Jahren das Kulturzentrum Taranta Babu gründete, vom LiteraturRat NRW der Literaturtaler 2024 verliehen. Den musikalischen Auftakt gestaltet Kemal Dinç, der seinen zarten Gesang an der Bağlama begleitet. Hasan Şahin stimmt - den Ellbogen auf einem Tisch gestützt, sein Gesicht in einer Hand versunken seinen Kopf in seinen Händen davor und stimmt kontemplativ in den Gesang mit ein. Es folgt die Begrüßung durch Jörg Albrecht, dem Vorsitzenden des LiteraturRat NRW.
gedicht
Klick hier, um Auftakt und Begrüßung zu hören:

Ayşe Kalmaz, eine langjährige Freundin Hasans hält die Laudatio.
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Klick hier, um Ayşes Laudatio auf Hasan nachzuhören:

Jörg Albrecht verleiht Hasan den Literaturtaler und verliest die Jurybegründung hier:


Ein Mann im Publikum fordert Hasan auf, dieser solle doch jetzt mal was dazu sagen, woraufhin Hasan sein (Under-)Statement abgibt: Was soll ich sagen? I am very happy. (...) I am nice, but not heiß. Das Publikum bricht in herzliches Gelächter aus, die Stimmung ist gelöst.
Klick hier, Hasans nices Statement zu hören:

Es folgt ein musikalisches Zwischenspiel:

Daraufhin liest das Orga-Team des Taranta Babu um Schriftstellerin Astrid Petermeier aus Texten von Autor:innen, die im Taranta Babu lasen.
Klick hier, um sich die Lesung anzuhören:

Nach einem musikalischen Zwischenspiel halten Ayşe Kalmaz und Hasan Şahin gemeinsam ein Gedicht, das womöglich den Titel Kostenlos trägt.
gedicht
Klick hier, um das Gedicht anzuhören:

Kemal Dinç rundet den Abend mit einem abschließenden Lied ab, das die Gäste zum gemütlichen Beisammensein einlädt.


***Achtung, Veranstaltungshinweis!
Heute, am 8. Oktober, bin ich als Co-Moderatorin der Sendung Klangwelten von Achim Zepezauer auf Eldoradio, dem Dortmunder Campusradio, zu hören. Die Sendung läuft von 20 - 23 Uhr. Seid dabei, wenn ich mir selbst live on Air ein BVB-Tattoo steche.
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***Achtung, Veranstaltungshinweis!
Lesung am Freitag, 4. Oktober aus meinem Roman Tropicalia Passagen im AKZ in Recklingenhausen, König-Ludwig-Straße 50. Die Veranstaltung startet um 19.30 Uhr.
am 24. Oktober lese ich aus dem Roman im Literaturhaus in Dortmund, Neuer Graben 78.
reck


Mittwoch, 02.10.2024, Nightlife im Hochsommer – Bier und Open Air Party im Westpark
Wenn es dunkel wird und es tagsüber geregnet hat, sind die Straßen besonders schön, der nasse Asphalt glänzt im Laternenlicht.
rain
Blöd nur, wenn Kneipiers sich von Witterungen beeindrucken lassen und Konzerte kurzfristig absagen, so wie Hubert von seiner Kneipe in der Hansastraße, wo wir an einem Dienstag im August eigentlich hinwollten. Statt den Kneipenbetrieb einfach weiterlaufen zu lassen, entschied sich Hubert spontan dafür, seinen Laden für den Abend einfach zu schließen. Das Konzert wurde nachgeholt. Okay. Aber, wo sollten wir dann nun hingehen? Wir laufen in Regenjacken durch den Regen und checken Orte ab, das Café Banane auf der Rheinischen Straße hat auch zu, im Kraftstoff riecht es unangenehm nach nassen Jeans, so entscheiden wir uns für ein Bier am Bergmannkiosk; das alkoholfreie Bier dort schmeckt schlimm, aber da muss ich jetzt durch.
Klick hier, um dem Bergmannkiosk an einem Regenabend zu lauschen:

Nach einem weiteren Bier vom Lieblingskiosk auf der Lindemannstraße erhalten ich eine Nachricht von C., er sei jetzt mit den anderen, die er in Huberts Kneipe auffangen konnte, im Londoner. Letztes Bier also dort, die Auswahl ist groß und erlesen. Mein Bier wird in einem kugelförmigen Glas serviert, schmeckt blumig nach Holunder und streift zähflüssig meinen Gaumen, ich zehre davon in den folgenden zweiundsiebzig Minuten, in denen wir eine Polin, eine Chinesin und zwei Bewohner aus dem Kiez kennenlernen. Alles etwas anstrengend, aber eigentlich ganz nett hier.

londoner

An einem wiederum sehr heißen anderen Abend kommen wir im Westpark an einer Menschenansammlung vorbei, die sich zum Sambatanzen in der Mitte des Parks getroffen hat. Vor lauter Leuten sieht man keine Person, die Stimmung ist gut, ich will aber natürlich nicht tanzen, es ist noch sehr hell und wir setzen uns auf eine Bank auf der Seite des Rumpel-Rewes vor einem Gebüsch aus dem mit viel Ast- und Heckengeraschel begleitet immer mal wieder Männer herauskommen und ihre Hosen schließen, es riecht auch leider etwas nach so ähnlich wie vorhin auf der Lindemannstraße, wo kurz zuvor eine Dixie-Toilette umgekippt ist. Mein Bussi-Kratzdrink will sich einfach nicht in Wasser auflösen, obwohl die Hitze sich im Park gestaut hat. Zweifellos steigen hier im Westpark die illegalsten Partys Dortmunds, Tresor.West ist drogenmäßig wahrscheinlich ordentlich reglementierter Kindergarten dagegen.
Klick hier, um der Salsa- und Sambaszene im Westpark zu lauschen:


Montag, 23. September 2024, Hoerde 2, Frittenbude – kreatives Gewerbegebiet ehem. Hochofenwerk Phoenix

Nach knapp fünf Monaten in Dortmund bin ich nun an den Punkt gelangt, dass ich bei jeder vierten Person, die mir über den Weg läuft, denke: Die hast Du aber schonmal irgendwo gesehen. Wenn du auf zwei verschiedene Konzerte gehst, kannst du davon ausgehen, dass du die Hälfte der Besucher des ersten Konzerts auf dem zweiten wiedersiehst. Aber es passiert nicht nur auf Konzerten oder im Umkreis von 400 Metern um meine Bleibe: Ich sehe dieselben Menschen auch an ganz anderen Orten wieder, auch außerhalb des Zentrums. Dortmund ist nicht sehr groß, was die Stadt einerseits sympathisch und für Neuankömmlinge überschaubar macht, andererseits gibt es mir das Gefühl, zu schnell irgendwo verankert zu sein, was es schwierig macht, mich aus festgefahrenen Kreisen wieder herauszuwinden möchte. Dem entgegen hilft immer wieder eine Radtour ins Auswärts, zum Beispiel nach Hörde.

Über Umwege am Aquädukt vorbei erreiche ich das „Zentrum für Produktionstechnologie“, ein Gewerbepark. In nicht zu weiter Ferne Phoenix West, Wahrzeichen einer eins florierenden Metallindustrie in Dortmund und das Gasometer.
phoen

In der Robert-Schumann-Straße steht ein Mann, er hält einen Schlauch in der Hand, mit einem strammen Wasserstrahl reinigt er die Lamellen der Jalousien vor den Fenstern. Muss alles schön sauber bleiben hier. Zwei Männer kreuzen meinen Weg, wahrscheinlich auf dem Weg zu einer Kantine, es ist Mittagszeit, sie unterhalten sich über Autos unterhalten. Es stehen auch ein paar schicke Schlitten hier im Gewerbepark. Auffallend, dass die Bürogebäude hier alle niedrig gebaut sind, das liegt daran, dass es einfach unheimlich viel Platz zum Bauen gab, das hat mir Bastian Pütter vom Bodo-Magazin mal erzählt. An der Konrad-Zuse-Straße ein cleanes Backsteingelände, eine Kunstgalerie namens „Phoenix des Lumières“ - es riecht förmlich nach creative industry. Hier befindet sich auch der Technoclub „Tresor.West“, den Dimitri Hegemann vor einigen Jahren nach dem Berliner Vorbild Tresor.Ost gegründet hat. Direkt gegenüber der Ausstellungsanlage eine Currywurst-und-Pommes-Bude mit Holzbänken und Tischen, wo Mitarbeiter der umliegenden Firmen ihre Mittagspause abhalten. Ein mann erzählt der Dame in der Bude, dass ein kollege für die firma in vorzahlung gegangen ist, ein weiterer kommt dazu. Die Dramatik der Erzählung des Mannes wird von der Frittenverkäuferin mütterlich abgefedert, nicht nur Frittenverkaufen ist ihr Job! Die Männer kommen hier sicher jeden Tag vorbei.
Klick hier, um der Frittenbude zu lauschen


Ich kaufe mir hier eine Cola und fahre vorbei am Bahnhof zum Phoenixsee. Die alte Thomasbirne ist natürlich wunderschön.
birne

Als ich den künstlich angelegten See umfahre, denke ich an den Dokumentationsfilm über die Entstehungsgeschichte des Sees, der eigentlich noch reizvoller ist als der See selbst. Diese erfrischende Doku trägt den Titel Göttliche Lage und kommt ganz ohne kommentierende Stimme aus dem Off aus. Einzig die vielfältigen Aufnahmen aller an dem Prozess Beteiligten (ehemalige Phönix-Arbeiter, alteingesessene Anwohner, die weichen müssen oder bleiben dürfen, knallharte Geschäftsmänner einer Immobilienfirma, die sich im Umgang mit Grundschülern professionell freundlich geben, Mitglieder eines Heimatvereins, die über die Ansiedlung der Kanadagänse und Stockenten debattieren, porschefahrende Besitzer neuer Grundstücke, die sich über die Inneneinrichtung ihrer zukünftigen Villen den Kopf zerbrechen, an die Großbaustelle angrenzenden Kioskbesitzer sowie Larry Hagman als Special Guest während der Flutung des Sees. Der Hauptprotagonist der Doku ist für mich eigentlich der Polizist (damals noch in Grün), der soziale und vermittelnde Nachbarschaftsarbeit leistet. Mikrokosmen treffen in diesem Film auf Makrokosmen und ergeben ein stimmig widersprüchliches Bild und unzählige Insidereinblicke, die mir die künstlich angelegte Gegend verständlich machen.
Von der Südseite des Sees aus schaue ich auf die Anhöhe mit den Villen, die da wie Würfel mit zu vielen Augen auf jeder Seite eng beieinander stehen. Während ich den See umfahre, liegen sie wie störende Krümel in meinem linken Augenwinkel. Könnte man die Augen nur öfter verschließen oder Gesehenes aus dem Blickfeld wischen. Zum Glück geben die Villen aus der Entfernung keinen Mucks von sich. :) Auf dem Radweg passiere ich Jogger, Senioren, Zigarettenraucher, E-Bikes und E-Zigarettenraucher, E-Senioren und E-Jogger.


Mittwoch, 18. September 2024. Über D-Promis in Südbad und Bibliothek

Irgendwann im Frühsommer hetzte ich kurz vor einer Lesung im Literaturhaus, die ich moderierte, mit dem Fahrrad nochmal schnell zum Südbad, wo ich meine Gedanken etwas zu ordnen gedachte. Dort angekommen musste ich feststellen, dass ich mein Portemonnaie vergessen hatte. Statt gleich wieder umzukehren, um mein Geld dort abzuholen, kettete ich das Rad vor dem Schwimmbad an, mit der übergeschnappten Absicht, einer der Mitarbeiterinnen einfach meine missliche Lage mitzuteilen. In dieser planlosen Handlung schwang natürlich die Hoffnung mit, sie hätte Verständnis, böte mir irgendeine Lösung an (vielleicht hatte ja wer PayPal, und ich könnte virtuell zahlen, oder wer streckte vor und ich zahlte an einem anderen Tag... ). Natürlich ahnte ich längst, dass dieser Plan nicht aufgehen würde, doch offenbar minderte der Reiz am Experiment die Hoffnung und das Vertrauen in die Mitarbeiterinnen des Südbads nicht, die Mitarbeiterinnen, die ich bis dahin doch immerhin mindestens jeden zweiten Tag gesehen hatte.

Zerknirscht trete ich also unter die Augen der Mitarbeiterin mit Pferdeschwanz und Brille und sage: „Ich habe mein Portemonnaie vergessen.“ Was erwarte ich eigentlich? Ist es nicht total hanebüchen, ihre Hilfe einzufordern?“ Eine längere Pause vergeht, bis sie antwortet: „Ich kenne sie nicht.“ Sie sagt es ruhig und mit Bedacht. Ohne Ausrufezeichen, als hätte sie tatsächlich überlegt, wie sie mir entgegenkommen kann. Ich lese folgende Message in ihrem Blick, bzw. projiziere ich dies in ihre Augen hinein: „Wenn ich sie hier nur einmal bewusst wahrgenommen hätte, würde ich ihnen aushelfen!“ Doch sie kennt mich nicht! Ich finde diese Aussage absolut aufrichtig. So hetze ich zurück zur Wohnung, wo ich mein Portemonnaie einstecke und fahre erneut zum Schwimmbad.

Ich kann die Stimmen der Damen Südbad, wenn sie sich über den allgemeinen Schwimmbetrieb unterhalten, mittlerweile auseinanderhalten! Dafür dass sie mich nicht kennen, erzählen sie mir doch regelmäßig ziemlich viel persönliches Zeugs, sobald ich die Schranke am Eingang passiert habe. Und wenn du dich in der Umkleide entkleidest, kommen sie dir gefährlich nah. Ihre Wischmopps kriechen an langen Stielen unter den Kabinentüren hindurch und wischen die Böden in den Kabinen, wo ausgewrungene Badeanzüge Pfützen hinterlassen, die vom Dreck der Straßenschuhe dunkel gefärbt werden, und bare Füße hineintappen. Ununterbrochen wird der Boden gewischt, damit dieser Zirkel durchbrochen wird. Bei geschlossenen Türen wischen sie an deinen nackten Zehen entlang und erzählen dir durch die Tür von den letzten Diebstählen in den Umkleiden, mit polnischer Silbenbetonung, als müsste das so sein. Ich verstehe nur die Hälfte, aber aus dem Temperament beim Erzählen geht hervor, dass es sich um eine spektakuläre Story handelt. Dann öffne ich die Kabinentür und sage durch den schmalen Spalt: „Das ist ja unglaublich!“ Die Frau nickt bestätigt und sagt „Nicht wahr?!“ und ich frage mich: Ey Mann, wann krieg ich als Ehrengast dieser Stadt endlich die Ehrenjahreskarte fürs Südbad?
Aber machen wir uns mal vor, die eigentlichen Stars, die Hauptpersonen unseres Alltags sind die, die sich vielleicht gar nicht als solche verstehen. Die, die wir jeden Tag sehen, unter deren Augen wir selbst, weil sie täglich so viele Facegesichter zu sehen haben, zum Glück völlig untergehen. Es sind die sichtbaren Mitarbeiter:innen von Einrichtungen, die wir regelmäßig aufsuchen: Kassierer:innen von Supermärkten oder Postfilialen, Reinigungskräfte in Museen, Dönerbuden- und Kioskbesitzer, Kneipenwirtinnen, Bibliothekar:innen und Garderobisten und Garderobistinnen. Sie sind die Menschen des öffentlichen Lebens, gestalten den Alltag, seine Stimmung spürbar mit.
Bestens erinnere ich mich an einen Mitarbeiter der Garderobe der sich damals im Umbau befindlichen Staatsbibliothek in Berlin. Bei einer meiner vielen Taschen- und Jackenabgabe erzählte er mir mal, dass er sich eine neue Übergangsjacke gekauft hätte, kramte diese keinen Moment später hinter der Theke hervor, zog sie über, um sie mir zu präsentieren, hielt sie dabei mit beiden Händen am unteren Saum über seinem Bauch straff. Keine Kapuze, meinte er, weil ist ja nur Übergang, aber der Kragen sei cool, und klappte den Kragen dabei hoch. Der Typ kannte mich jedenfalls, was mir etwas unangenehm war, vor allem, weil ich bei der regelmäßigen Anwesenheit in der Stabi doch auf wenig Output an Veröffentlichungen verweisen kann und er mir jedes Mal bei meiner noch so einsamen Tätigkeit in der Bibliothek (bei der mit der Zeit im Idealfall, also bei der Lektüre und dem Aufschreiben von Notizen, der Tatbestand der eigenen Existenz in den Hintergrund rückt, sich angenehmes Selbstvergessen einstellt) so gesehen advers widerspiegelte, dass ich tatsächlich nun gerade in der Bibliothek existent war. Wenn ich am Tagesende Jacke und Tasche wieder abholte, wünschte er mir einen schönen „Feierabend“ und freitags auch ein „schönes Wochenende“, woran ich erkannte, dass unsere Lebensstile eher konträr waren, denn manchmal beginnt meine Arbeit erst abends oder am Wochenende so richtig. Arbeit kann einen leider zu jeder Zeit überkommen und verlassen. Wenn ich nicht in der Stimmung für Smalltalk mit dem Mann an der Garderobe war, wich ich auf Schließfächer aus, wenn welche frei waren. Und wenn ich mal zwei Wochen nicht da war, meinte er, ich sei ja länger nicht hier gewesen. Zumindest einer, der sich Gedanken darüber machte, ob ich auch brav in aller Regelmäßigkeit an meinem Manuskript arbeitete, diese soziale Bibliothekskontrolle nahm sicher positiv Einfluss auf meine Arbeit.
Das schöne an diesen Menschen an Garderoben, in Schwimmbädern und Supermarktkassen ist ja, dass sie von ihrem Prominentendasein gar nichts wissen und man sich auch nicht lästig fühlt, wenn man sie regelmäßig aufsucht.
Als ich das letzte Mal daheim in Berlin war, hatte ich das starke Bedürfnis, in unseren benachbartem Lidl vorbeizuschauen, nur um mich zu vergewissern, dass mein Lieblingskassierer noch dort arbeitet. Jedenfalls bleibe ich gespannt, ob mich die Südbadmitarbeiterinnen bis Ende Oktober doch mal bewusst wahrnehmen. Vielleicht sollte ich das Experiment mit der vergessenen Geldbörse dann einfach nochmal austesten.


Dienstag, 17.09.2024. Der Dortmunder Literaturpodcast aus Körne

Es sollte nicht versäumt werden, auf den Dortmunder Literaturpodcast von Rosmarie Schnetterer aus Körne aufmerksam zu machen, der sich dem autobiografischen Roman des Autors Rainer Möller mit dem Titel Wenn in Dorstfeld die Glocken läuten widmet, der letzten Monat posthum im Vakant Verlag erschienen ist. Im Eintrag vom 08. August berichtete ich bereits über die "edition Dortmund." In der Podcastfolge interviewt Rosmarie Schnetterer Gregor Möller, der viel über den Inhalt, die Entstehungsgeschichte sowie die Hintergründe des Buchs seines Vaters verrät.
Klick hier, um die Podcastfolge nachzuhören:



Montag, 16.09.2024. Das Dortmunder Mandolinenorchester. Besuch bei einer Probe

An einem Dienstag Abend im September werde ich zu einer Probe des Dortmunder Mandolinen- und Gitarrenorchsters eingeladen.
Dieses Ensemble besteht bereits seit hundert Jahren. In der Broschüre heißt es:
Im Jahre 1922 gründeten Dortmunder Arbeiter einen Verein, um gemeinsam zu musizieren. (…) Doch schon nach mehreren Jahren eignete man sich darauf, einen einheitlichen Klangkörper mit Zupfinstrumenten wie Mandoline, Gitarre und Mandola zu gestalten. Die Arbeiterbewegung hatte in diesen frühen Jahren einen großen Einfluss auf das Orchesterleben. Aus diesem Grunde wurde das Orchester 1933 durch die Nationalsozialisten aufgelöst, das Eigentum des Orchesters, Noten und Instrumente, beschlagnahmt. Seit der Neugründung nach 1945 steht für das Orchester die Freude am gemeinsamen Musizieren, das kulturelle Engagement, die Jugendarbeit sowie die internationale Kontaktpflege im Vordergrund.“
Die Broschüre zeigt die Daten des Orchesters mit all seinen Auftritten im In- und Ausland und den Veränderungen in der Besetzung seit 1922 auf. Viel ist seitdem passiert, der Nachwuchs an Musiker:innen sei ein großes Thema, erklärt mir Sibylle, die mich vor ein paar Wochen zu der Probe einlud. Da die Mandoline 2023 zum Instrument des Jahres gekürt wurde, habe es im letzten Jahr einen kleinen Aufwind bei der Besetzung des Instruments gegeben.
An diesem Dienstagabend versammeln sich die Musiker:innen (drei Gitarren, drei Bässe, drei Mandolas sowie sechs Mandolinen in erster und zweiter Besetzung) in dem kleinen Raum in der Musikschule in der Steinstraße. So pünktlich sei man sonst nie, erklärt mir Sibylle. Ein heißer Spätsommerabend, die Fenster sind weit geöffnet, laut schallt der Verkehrslärm der Steinstraße mit der benachbarten Feuerwehr und Schlagzeugklänge aus der unteren Etage der Musikschule in den Proberaum - Klänge, die sich wie die Musik der Mandolinen auf den Aufnahmen meines Rekorders abzeichnen werden.
Angeleitet wird das generationenübergreifende Ensemble von Iain und Nicola. Iain kam aus Schottland, wo er in einem Jahr der einzige Bachelorabsolvent in Mandoline war, nach Wuppertal, wo er auf zehn weitere Mandolinenstudierende traf. In Wuppertal, wo man auf das Instrument spezialisiert sei, hat auch Nicola studiert, beide kennen sich vom Studium. Iain reist jeden Dienstag aus Köln nach Dortmund an, Nicola, die vor kurzem Mutter geworden ist, kommt aus Bergkamen. Gleich zwei Dirigenten für ein Orchester? Das sei auch praktisch, weil einer von beiden auch selbst immer im Ensemble mitspielen kann, wenn jemand ausfällt, während der/die andere das Orchester anleitet, erklären sie mir. Nicola stellt sich im ersten Teil der Probe vor das Orchester, das sich richtig viel Gedanken um meinen Besuch gemacht: Die geprobten Stücke werden Stadtklänge behandeln. Und da ich mich als Stadtschreiberin ja auch mit Glocken beschäftigt hätte, sollte ich ganz genau auf das Ende des ersten Stücks hören. Denn im nun folgenden Tagelied der japanischen Komponistin Miwa Naito würde man am Ende einen durch die Zupfinstrumente angedeuteten Glockenklang hören können. Ich bin gespannt. Sanft führt Nicola das Orchester durch das verträumte Tagelied.

Klick hier, um dem Dortmunder Mandolinenorchster beim Proben des Tagelieds von Miwa Naito zu lauschen:


Nachdem Nicola die einzelnen Musikergruppen auffordert, einige Takte zu wiederholen, und das Orchester angeregt alle Verbesserungsvorschäge annimmt, übernimmt Iain die Leitung. Es sollen zwei Parts geprobt werden, die der zumeist für Filmmusik bekannt gewordene Komponist Michael Nyman für den 1929 entstandenen Stummfilm Man with A Movie Camera von Dziga Vertov schrieb. Der Film zeigt Ausschnitte des Stadtlebens in Moskau, Kiew und Odessa in den späten 1920er Jahren. Moskau und Kiew, erklärt Sibylle und verweist damit auf eine vergangene, friedlichere Zeit.

Klick hier, um dem Dortmunder Mandolinenorchster beim Proben der Filmmusik für Man with a Movie Camera von Michael Nyman zuzuhören:


Das dritte Stück, das das Orchester in meiner Anwesenheit probt, ist die Studie 2 von Fred Witt, der als Gitarrist als Lehrer und Dirigent an der Musikschule tätig war und der für das Vorgängermandolinenorchester Stücke geschrieben hat. Einige Mandola-Spielerinnen und ein Gitarrist versorgen mich mit weiterem Insiderwissen, aus dem hervorgeht, dass Witt von Kopf bis Fuß auf seinen Job eingestellt war. :) Außerdem erfahre ich, dass das Orchester Studie2 einem ehemaligen Orchestermitglied im Hospiz vorspielte. Diese Information verfestigt meinen allgemeinen Eindruck, dass alle Mitglieder aneinander Interesse haben und füreinander über einen langen Zeitraum da sind. Orchester sind auch Solidargemeinschaften.
Für die File unten habe ich mehrere Takes zusammengeschnitten, vielleicht bemerkt man die musikalische Verbesserung des Instrumentalspiels, die sich ja beim wiederholten Üben einzelner Parts einstellt.

Klick hier, um dem Dortmunder Mandolinenorchster beim Proben der Studie 2 von Fred Witt zu lauschen:

Ich danke dem Orchester für die Einladung zur Probe der musikalisierten Stadtklänge! Wer sich als Musiker:in (Gitarre, Mandola, Mandoline) beteiligen möchte, kann das Orchester unter info@dortmunder-zupfmusik.de gerne kontaktieren. Ich wünsche immer viele Mitspieler:innen und weiterhin harmonisch heitere Proben. Denn eigentlich proben Musiker:innen ja immer mehr als sie überhaupt vor Publikum spielen.


Montag, 9. September 2024. Straßenteppich, Teppichstraßen

Seit ich endlich weiß, dass das Dortmunder U ein 1926/1927 als „Gär- und Lagerkeller“ der Dortmunder Union Brauerei errichtetes Hochhaus ist, hat es für mich an Wert gewonnen. Am allerersten Wochenende war ich für ein Interview dort, und ich wundere mich bis heute, dass nicht alle Dortmunder mir an diesem Tag als allererstes die Historie des Gebäudes erzählten. Die Umbaumaßnahmen sollen laut einer Teilnehmerin meines Schreibkurses sehr aufwendig gewesen sein, da sich der gesamte Biergeruch und Schmutz im Beton gesammelt hatte. Die Volltransformation des Gebäudes schlägt mir auf mein Gemüt. Hätten bei diesen Maßnahmen nicht eine Ecke bleiben können, in der man den olfaktorischen Eigenschaften hätte nachspüren können, nur ein kleines Eckchen, in der die bierige Vergangenheit als re-enactment hätte aufgeführt werden können. Auf sowas stehen doch die Touristen aus UK und US. Stattdessen Hochkunst auf allen Etagen. Warum gibt es hier nicht einmal Postkarten mit Abbildungen des ehemaligen Gebäudes zu kaufen? Auch der Vorplatz des Dortmunder U ist luftdicht versiegelt. Wenn es stark regnet, weiß das Wasser nicht mehr, wohin.
Mit dem Aufzug fahre ich in siebte Etage, dort hat sich schon eine Hochzeitsgesellschaft versammelt, die die Räume zum Feiern angemietet hat. Die Sounds, die von unten und auch vom Bahnhof herüberkommen, sind kaum der Rede Wert. Die Aussicht von der Dachterrasse des U erinnert mich an diese Straßenteppiche in Kinderzimmern. In einer sauberen Kurve führt die Straße aus der Unterführung hinauf.


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Veranstaltungstipp für Freitag, 13. September - Filmvorführung "WE ALMOST LOST BOCHUM" im Soez in der Nordstadt.

In Anwesenheit der Regisseure Julian Brimmers & Ben Westermann, Moderation: Chrizzi Heinen/ich

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WE ALMOST LOST BOCHUM erzählt von RAG (Ruhrpott AG), einer der wichtigsten Rap Crews der 90er Jahre mit einer bewegenden Geschichte über Freundschaft, Leben und Tod. Und das Ruhrgebiet. Obwohl nie im Mainstream angekommen, haben RAG Spuren hinterlassen: Jan Delay, Kool Savas, Curse, Die Kassierer und die Stieber Twins erzählen in WE ALMOST LOST BOCHUM, wie sehr RAG sie damals und heute inspiriert haben. Und welche Bedeutung die Gruppe für Deutschrap hatte – weit über den Pott hinaus. 20 Jahre nach Veröffentlichung ihres Klassikers Unter Tage ziehen sie Bilanz. Mit nur zwei LPs haben die Rapper Aphroe, Pahel und Galla sowie DJ/Produzent Mr. Wiz dem großen Deutschrap-Boom Ende der 90er ihren Stempel aufgedrückt. Zwei Jahrzehnte später begleitet der Film die ehemaligen Mitglieder vom tiefsten Ruhrgebiet bis nach Washington D.C., dokumentiert ihre ersten Konzerte nach 15 Jahren Bühnenabstinenz und beleuchtet den tragischen Tod des RAG-Mitglieds Galla. Was ist aus den Bandmitgliedern geworden? Wie hat sich ihr Leben nach RAG verändert? Welchen Einfluss hat die Crew bis heute auf Deutschrap und warum sind RAG trotz ihres Stellenwertes unterm Radar geblieben? WE ALMOST LOST BOCHUM ist ein Denkmal für RAG und beleuchtet die erste echte Hochphase des deutschen HipHop.

  Mit Musik von LUCRECIA DALT, DERADOORIAN, CLAUDE SPEEED, HADE, MILAN W, LOCAL STANDARD TIME, HODINI und DWFL.


Veranstaltungstipp: Donnerstag, 5. September 19.30 Uhr - Punk statt Putin. Lesung und Gespräch mit Norma Schneider über Gegenkulturen in Russland

Moderation: Chrizzi Heinen
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Ich freue mich, Norma Schneider zu einer Lesung mit Gespräch über ihre Recherchen in Russland ins Literaturhaus einzuladen. Die zahlreichen Interviews, die Norma mit Künstler:innen in Russland und im Exil geführt hat, erzählen von Hoffnung und Perspektivlosigkeit, von mutigem Protest, Safe Spaces und dem Willen, weiter für ein freies Russland zu kämpfen. Anhand von Musik, Musikvideos, Interviews und Bildmaterial wird sie am Donnerstag die Spielräume der oppositionellen Stimmen vorstellen.

Tickets sind hier erhältlich: Tickets

Wer nicht zugegen sein kann, kann Normas Buch hier portofrei beim Ventil Verlag bestellen: Punk statt Putin


Montag, 2. September 2024

Leider habe ich feststellen müssen, dass das Restaurant Maayas Express, über das ich am 13. Juli schrieb, bis auf Weiteres geschlossen hat. Darüber bin ich sehr traurig, da es eine wirklich heimelige Stube mit gutem Essen war. Der Leerstand der Ladenlokale nimmt zu.

26.08.2024 Soundwalk durch die Vorhölle Thiergalerie

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1997 umschreibt Jonathan Sterne in seinem Artikel The Mall of America Einkaufszentren als Sinnbilder für die Konsumgesellschaft. Parallel zu den Entwicklungen des Klangdesigns begannen er und andere Kultur-, Musik- und Klangwissenschaftler in den 1990er Jahren die Soundscapes dieser kapitalistischen Einkaufswelten zu erforschen. Dabei verliert sich Sterne in fast obszön interessanten Umschreibungen dieser Klanglandschaften. So schreibt er der Musik in Einkaufszentren Eigenschaften, die den Raum und damit die Architektur generieren:

In places like the Mall of America, music becomes a form of architecture. Rather than simply filling up an empty space, the music becomes part of the consistency of that space. The sound becomes a presence, and as that presence it becomes an essential part of the building's infrastructure. Music is a central - an architectural - part of malls and other semi-public commercial spaces throughout the country, yet for all the literature on spaces of "consumer culture," little or no mention is made of the systematic dissemination of pre-recorded music that now pervades these places.

Am Beispiel der Mall of America klärt er darüber auf, dass die Geschäfte einer Kette im Allgemeinen alle die gleiche oder eine ähnliche Musikprogrammierung nutzen, um ein einheitliches Erscheinungsbild zu erreichen, ebenso wie sie ähnliche Design- und Beleuchtungstechniken verwenden. Allerdings ist dieses Corporate Image ihm zufolge eine Vereinigung dessen, was das Unternehmen von seinen potenziellen Kunden erwartet.

Doch wie steht es um die Soundscape der Thiergalerie? Sind solcherart Schlussfolgerungen auch auf die Soundscapes der vielen Läden im Dortmunder Einkaufszentrum zu übertragen?
Lassen wir uns zuvor einmal hineinhören, bevor wir uns ein Urteil erlauben. Wir beginnen unseren Soundwalk am Eingang der Vorhölle am Westenhellweg beim Frittenwerk. Unter der Soundfile folgt eine Auslegung der gehörten Eindrücke.

Wir passieren
Frittenwerk.Scotchandsoda.Lacoste.Lloyds.Bijouxbrigitte.Rituals.Tommyhilfiger.H&m.Newyorker.Jeansfritz.Streetone.
Veromoda.Sixthjune.Pimkie.Primark.Emilioadani.Gant.Marcopolo.Hollister.Sportvoßvinkel.BVBFanshop.Kult.Levis.Superdry.
Gstar.Tallyweijl.Hunckemüller.Nanunana.Tkmaxx.Mccpaper.Ernstingsfamily.Dm.Dortmunderteekontor.Deichmann.Footlocker.Jd.
Only.Markenoutlet.Cyberport.Walbusch.Thalia.Kfc.Mrchicken.



Klick hier, um dem Soundwalk durch die Vorhölle Thiergalerie zu lauschen:


Unignorierbar während unseres Höllensoundwalks das Gejaule, das die Flure aller Stockwerke gleichermaßen beschallt, ein undefinierbares Songgenre, das wahrscheinlich mittels KI hergestellt wurde. Ich hätte es rausschneiden können, damit die Musik der Läden besser zu identifizieren ist, doch dann wäre der wahrhafte Terror akustisch nicht ausreichend abgebildet worden. Zudem wird deutlich, dass sich Flurbeschallung und die Musik in den einzelnen Läden in den jeweiligen Eingangsbereichen penetrant überlagern und was – jedenfalls bei mir – suizidale Affekte freisetzt oder zumindest das starke Bedürfnis nach einem Exit hervorruft, sei er in Form eines Notausgangs oder einer anderen Tür in irgendein Draußen.
An Hussel und anderen Genussmittelläden sowie den Fressbuden im Obergeschoss laufe ich schnell vorbei, weil ich dort ein Beratungsgespräch fürchte. In manchen Läden kann ich mich einer obligatorischen Beratung nicht entziehen, vor allem in Hautpflege- und Unterwäscheläden sind die Verkäuferinnen darauf aus.
Die programmierten Musiken in den Läden sind – wie zB bei StreetOne in Minute 9:00 bis 10:00 – durch vergleichbare Muster gekennzeichnet: Eine kleine Melodie wird eingeführt, die nach ein paar Sekunden mit leisem Stampf angereichert und weitere zwanzig Sekunden später mit zusätzlichem Stampf verdichtet wird. Konventionelle Steigerung von minimal zu maximal Stampf, natürlich alles anständig im 4/4-Takt. Esprit, ein aufdringlicher Schreisong einer Frauenstimme, die folgende Message rüberbringt: „Ich mache jetzt mein Ding! No matter what!“ Das schrille Geräusch des Stahls beim Herumschieben der Kleiderbügel auf den Kleiderstangen ist dagegen Musik in meinen Ohren.
Disko-Atmo bestimmt auch Hollister (Minute 19:00), begleitet vom arhythmischen Knarren der Schritte der durch den Laden laufenden Kunden auf dem Holzdielenfußboden. Bei VeroModa und SixthJune ist die Musik am lautesten, zumindest hört man endlich nicht mehr das unkoordinierte Gejaule aus der Haupthalle. Vermutung: Beide Läden fechten akustisch ein kleines Kämpfchen aus, Gejaule von Draußen gegen Gejaule aus den Läden. Auch bei Thalia und bei Hunckemöller keine Musik, im letzteren vermutlich nicht, da die Kundinnen da ein wenig Ruhe für intime Gespräche über Lingerie einfordern.
Auch im BVB-Fanshop keine Musik, Kommerzeskapismus stellt sich bei mir hier trotzdem nicht ein. Ebenso keine Musik bei Levis, was ich eher als unangenehm empfinde, da man hier das Flurgejaule besonders laut hört. In den Sneakerläden der zu erwartende HipHop. Kult beschallt seine Kunden als einziger Laden mit vermeintlichem Oldskool-HipHop, ein Stück mit dem Refrain „fat girl“, was mich irgendwie an Do the Bartman erinnert.
Einzig bei Only Gema-pflichtige Musik („Its my life“) bzw. Musik aus der Zeit vor KI.
Gstar featured angesexten Soul, Tally Weijl Horrormusik in diesem KI-generierten Fantasiefranzösisch.
In manchen Läden hab ich vor lauter sinnlich empfundenen Wirrwarr erst später gecheckt, was verkauft wird.
Beim Dortmunder Teekontor kaufe ich Genmaicha-Tee.

Die akustische, visuelle und haptischen Ausgestaltung der Unterwäschekette Victoria Secret beschreibt Sterne in der eingehenden Analyse folgendermaßen:

„Victoria's Secret, a store specializing in lingerie, not only plays classical music in their stores, but sells tapes of their music programs. "Romantic" selections like Mozart's Piano Concerto in E Flat, the allegro from Schubert's Symphony No. 5 in B Flat, or Beethoven's Romance No. 1 in G While the store's merchandise and visual displays differentiate it in terms of gender, the music program, along with the decor, offers listeners an index of class and a coherent frame within which to experience the store and themselves. The music plays to an American bourgeois identity by suggesting a refined, European, aristocratic taste. As a form of music that is generally associated with refined taste and prestige, it functions to legitimate the store as a respectable place to shop. More generally, it helps to produce the atmosphere within the store. The store itself is decorated in plush style, and the lighting is particularly soft. (…) The programmed music, European classical music, supplements rhetoric of the store's appearance. For many Americans, "Europeanne can itself be an index of high-class status and refinement.

Doch lässt sich in Bezug auf die Läden anhand der Thier-Galerie gar ein vergleichbares synästhetisches Konzept festmachen, das der Verkaufsmotivation der Unternehmen unterliegt. Nein. Eigentlich hatte ich den Eindruck, dass die Läden überhaupt gar nichts verkaufen wollen. Natürlich lag ganz zu Beginn der empirischen Kurzforschung die Kurztheorie auf der Hand, in den weniger billigen Poppermode-Läden herrsche im Sinne Sternes oben ausgeführten sinnlichen Verfeinerung höher klassifizierte Genres vor. Da sich die Grenzen zwischen U und E Musik, zwischen bestimmten Klassen zugehörigen Musikstilen wünschenswerterweise verflüssigt haben, ist die Frage eigentlich hinfällig. Verfolgt man dieses alte Modell, kann man feststellen, dass dies nur bedingt der Fall war: Bei weniger billigen Popperläden wie Gant und MarcoPolo konnte sich bestätigen, dass die Musik tatsächlich eher unaufdringlich daherkam. Doch das Klischee, dass bei Primark demgegenüber Bumstechno läuft, konnte nicht validiert werden. Klassen- oder Genderkohärenzen konnten demzufolge kaum festgemacht werden, was schonmal gar nicht schlecht ist. Doch anders als es Stern ganz oben über die Mall bestätigt, folgt die musikalische Programmierung keinem architektonischem Plan, sondern unterliegt einem anarchistischen Soundkonzept.


Samstag, 17.08.2024, Galerie 7 in Hörde

Sonntag Nachmittag bin ich mit dem Rad nach Hörde zu der Finissage der Ausstellung „Sichtfelder“ in der Galerie Friedrich7 gefahren. Hierzu kam es, da mich Claudia Eberbach, die die Ausstellungen dort (ehrenamtlich) kuratiert, via einer unheimlich freundlichen Email einlud. Sie hätte meinen Roman gelesen, schrieb sie, und lieferte mir eine spontane Interpretation der Püppchen (Protagonistinnen in der Erzählung) gleich mit. Ich war schwer beeindruckt! Die erste Person, die ich in Dortmund treffe, die meinen Roman gelesen hat! Selbstredend antwortete ich ihr sogleich mit einer Zusage. In der hellen Galerie mit den bunten Bildern angekommen, empfängt sie mich, als würden wir uns seit hundert Jahren kennen, stellt mich Sabine Held vor, die hier mit Claudia Terlunen (gerade nicht anwesend) auf der heutigen Finissage ihre Werke präsentiert. Sabine Held und Claudia Terlunen teilen sich seit vielen Jahren ein Atelier auf der Saarlandstraße. Für die Ausstellung „Sichtfelder“ haben sie sich gleiche Aufgaben gestellt, zum Beispiel dienten beiden alte Kunstkataloge als Vorlage, die sie auf ihre ganz unterschiedliche Weise übermalt und teils collagiert haben. Auf dem Flyer zur Ausstellung heißt es:
Claudia Terlunen und Sabine Held loten künstlerisch-ästhetische Schnittmengen aus, die sich durch Zeit und räumliche Nähe ergeben.
Dass sich die Künstlerinnen gegenseitig in ihrer Arbeit befruchten, erkennt man an ähnlichen Herangehensweisen, vergleichbaren Farbgebungen. Und doch kann man die Werke der beiden leicht voneinander unterscheiden. Sabine arbeitet gerade gern mit Orange und erzählt, wie die Serie entstanden ist, dass sie gern parallel an unterschiedlichen Bildern arbeitet. Sie, Claudia E. und ich unterhalten uns über Farben, über Mutterschaft, das Erwachsenwerden und über den kreativen Prozess, also, wie man überhaupt mit der Arbeit beginnt, wann man am besten aufhört, wann man die Arbeit wieder aufnimmt und die Frage nach dem eigenen Korrektor. Find ich immer spannend, da sich diese Fragen in Bezug auf verschiedene Kunstpraktiken (Schreiben, Malen, Musizieren) stark ähneln. Komischer Weise schaffen Gespräche über diese Arbeit eine starke Intimität, vielleicht weil die kreative Arbeit selbst immer sehr privat ist. Andererseits kommt man am Ende solcher Gespräche auch immer auf den gemeinsamen Nenner, dass es sich auch ganz stark um reines Handwerk und vorangegangene Übung handelt, die eigentlich gar nichts Persönliches mehr an sich zu haben scheint. :)

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Klick hier, um Künstlerinnengespräch (in reverse) zu lauschen:

Die Galerie ist gut besucht von Anwohnern oder befreundeten Künstlern, wir trinken Sekt, und Claudia E. und ich kommen auf den gesellschaftlichen Zweck einer Galerie in Hörde zu sprechen. Es ist so ein Thema, das sich konsequent durch Gespräche mit anderen Kurator:innen und Mitgliedern von Kunstvereinen in Dortmund zieht. Und ich vermute, es ist so alt wie die Kunst selbst. Während meiner Residenz im mittelsächsischen Augustusburg musste ich die Erfahrung machen, dass Künstler:innen im Idealfall zu Suppenküchen und Freibierabenden einladen, um das Interesse kunstdesinteressierter Anwohner zu wecken – anstatt Kunst zu schaffen. Aber das kann es doch nicht sein! Claudia bestätigt, dass es ihr viel besser geht, seit sie in ihrer ehrenamtlichen Arbeit (!) als Kuratorin wieder die Kunst in den Vordergrund gestellt hat. Es kommen doch trotzdem Leute, sage ich. Man darf sich nicht verbiegen.
Wir unterhalten uns über den Friseur Kamm Back [!!!], den sie mir vor ein paar Wochen via Insta empfohlen hat, zu dem ich bedauerlicherweise nicht gegangen bin, da ich zu meinem grimm schließlich eine etwas raue Friseurin in der benachbarten Nordstadt aufsuchte. Claudia erzählt von ihren drei Söhnen, die alle zu Kamm Back gehen. Boah, drei Söhne!, denke ich. Wir reden über ihr beständiges Familienleben im Kontrast zum Beziehungsstress, den sich andere Menschen machen, die keine Zeit mehr zum lesen [zeichnen und schreiben] haben. Jaja, man müsse Abstriche machen, jaja, giggles, giggles.
Ich hoffe, ich schaffe es, über den Besuch hier zu schreiben, sage ich.
Und Claudia sagt: Du brauchst gar nicht drüber schreiben, Hauptsache, du behältst uns im Herzen.
Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll: Das ist ja super: Tolle Sachen erleben und nicht darüber schreiben müssen! Alles im Herzen behalten. Großartig! Doch damit nicht genug: Claudia ist über eine Wendeltreppe im Keller verschwunden, kurz darauf kehrt sie mit meinem Roman in der Hand zurück, den ich signieren soll und dann sagt sie auch noch, sie hätte ihn so gern gelesen. Bislang habe ich nur Bücher für Leute signiert, die den Roman noch nicht gelesen haben und denke mir dann immer: Hilfe, die lesen den Roman noch, hoffentlich ärgern die sich nicht und werden irgendwann meine missglückte Unterschrift vorne im Buch genauer unter die Lupe nehmen. Wieauchimmer, eitles Autorinnengeschwafel.
Beschwipst und beglückt fahre ich mit dem Fahrrad von Hörde zurück in den Norden.


Samstag, 10. August 2024, Netto auf der Kreuzstraße

C.'s Überredungsversuchen, bei Rewe einzukaufen (siehe Eintrag vom 14. Juni 2024), zum Trotz gehe ich für gewöhnlich zu Netto auf der Kreuzstraße. Auf dem Hinweg kann ich dann beim Stadionkiosk immer meine Pfandflaschen ab- und in der benachbarten Postfiliale meine Briefe aufgeben, die sich in der Woche angesammelt haben. Vor dem Eingang von Netto, kurz vor dem Parkplatz für die Einkaufswagen, wird man von einem freundlichem leicht alkoholisiertem Mann (Marek?) begrüßt, der auf einem Stühlchen an einem Tisch sitzt, auf dem Zeitungen für den Verkauf ausliegen. Netto-Besucher, die er schon länger kennt, verwickelt er auch gern mal in einen kleinen Plausch. Häufig schallt Musik aus einer Box auf seinem kleinen Klapptisch, heute war es tatsächlich mal Panflötenmusik.
Auch über das Personal im Netto kann ich nicht klagen, sie sind ausnahmslos freundlich und/oder unterhaltsam. Als einem Kassenmitarbeiter mal ein 2-Cent-Stück, das ich ihm zuvor beim Bezahlen überreicht hatte, aus der Hand glitt und auf den Boden seines engen Kassenhäuschens fiel und er minutenlang, sein Kinn auf dem Kassenband liegend, mit seiner Hand an seinem langen Arm am Boden herumfischte, um es seine Fingerspitzen auf dem Boden herumspazierend aufzuspüren und ich anbot, ihm einfach ein zweites 2-Cent-Stück auszuhändigen, meinte er, er hätte heute im Allgemeinen einen schlechten Tag. Das Entgleiten des 2-Cent-Stücks und die anschließende Suche des Geldstücks kam ihm somit einfach entgegen, in dem Sinne dass der ganze Umstand inklusive der unbequemen Körperhaltung für ihn bloß die Tragik des Tages entblößte und ihn dadurch gleichsam letztendlich von seinem individuellen Drama erlöste. Auch die anderen Kassierer:innen mag ich sehr. Wenn Senior:innen aufgrund von Unterzuckerung oder zu wenig Flüssigkeitsaufnahme im Laden umkippen (das passierte in meinem Beisein schon zweimal) ist das Kassenpersonal gleich zur Stelle und bietet kühles Wasser und Süßigkeiten an. Der Laden wird vermehrt von Senior:innen aufgesucht. Viele kommen mit aus Werbungen von Zeitungsbeilagen ausgeschnittenen Vergünstigungsbons, die sie gleich neben das betreffende Produkt auf das Kassenband legen. Die Altersarmut macht sich hier jeden Tag immer stärker bemerkbar. Umso stärker der Andrang bei der Lottoannahmestelle in der Postfiliale.

Klick Hier, um Netto auf der Kreuzstraße anzuhören:

Das Sortiment von Netto scheint mir jedoch auf die Dauer bedauerlicherweise etwas fahl und einseitig, und ich befürchte, ich werde dann und wann mit anderen Supermärkten fremdgehen müssen, um ihm dauerhaft bis Oktober treu zu bleiben.


Donnerstag, 08.08.2024, Zwei Romane aus der Edition Dortmund

Zufällig ist mir zu Ohren gekommen, dass im Vakant Verlag diesen Monat gleich zwei Bücher in der Edition Dortmund erscheinen.
Zum einen Inside U42, ein Roman der unter anderem in der Dortmunder Untergrundbahn angesiedelt ist.

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295 Seiten, 22,00 Euro

Des Weiteren veröffentlicht der Verlag den Roman Wenn in Dorstfeld die Glocken läuten, ein autobiografisches Werk, das der aus Dortmund stammende Rainer Möller während seiner Haft in der Justizvollzugsanstalt Hansastraße verfasste.
Rainer Möller, 1942 in Witten geboren und in Dortmund aufgewachsen, arbeitete als Elektroinstallateur in Dorstfeld. Sein Sohn Gregor Marek Möller hat das 2001 entstandene intime Manuskript in Kooperation mit dem Vakant Verlag editiert. Es liegt somit ab August posthum in Romanform vor.
Auf dem Klappentext heißt es: Als im Jahre 2001 das Steigerlied des Glockenspiels im Uhrturm des Haus Schulte-Witten im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld durch ein anderes Volkslied ersetzt wird, erfährt der sechzigjährige Elektroinstallateur Rainer Möller eine retraumatisierende Episode. Statt des Steigerlieds erklingt nun viermal am Tag die Melodie von Wenn alle Brünnlein fließen. Bis zu seiner Wohnung am Wilhelmplatz schallt das Volkslied, mit dem seine verstorbene Frau Loredana deutsch lernte, nachdem sie in den frühen Siebzigerjahren vom polnischen Kattowitz nach Dorstfeld kam, um in einem Drogeriemarkt zu arbeiten. Rainer kann sich noch an Loredanas Deutschbuch erinnern, die grammatikalischen Formeln, die anhand des Liedtextes durchdekliniert wurden bis zu ihrer Einbürgerung, sowie an die freudvolle Geburt des gemeinsamen Sohnes Gregor Marek. Eine erfüllte gemeinsame Zeit, die mit Loredanas frühem Krebstod 1982 ein eisiges Ende nimmt, den Tod seiner Frau, den er bis heute nicht verarbeitet hat. Nachdem der Sechzigjährige einige Wochen viermal am Tag durch das Gebimmel des Lieds behelligt wird, bricht er eines Nachts in das Haus Schulte-Witten ein, durchschneidet die Elektrokabel der Glockenanlage und lötet sie so zusammen, dass ab dem nächsten Tag in regelmäßigen Abständen eine kakophone Zufallskomposition aus zwölf Glocken erklingt. Niemand wird darauf aufmerksam, bis Angela Sanecki, eine Mitarbeiterin der Käsetheke im gegenüberliegenden Netto bei einer Zigarettenpause auf die wundersame Melodie hellhörig wird. Von schweren Gewissensbissen geplagt hat sich Rainer Möller bereits bei der Polizei gestellt und wird aus finanzieller Not für sechs Monate verhaftet. In der Justizvollzugsanstalt in der Hamburger Straße arbeitet er in dieser Zeit wie im Wahn an seiner autobiografischen Erzählung über die Liebe zu seiner Frau Loredana und deren ungerechten Tod, den er mit dem kläglichen Ende der Dorstfelder Glocken in literarischer Dichte psychologisch verarbeitet. Der Ruhrbarone schreibt in einer Rezension: Das Schicksal eines gezeichneten Mannes, der aus Liebe kriminell wurde.

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180 Seiten, 18,80 Euro

Beide Bücher sind über den Verlag erhältlich.


01.08.2024, Über Bolmke nach Hombruch, Friedhof St. Clemens

Ich folge dem weg über die Brücke in den Wald, am Ende führt der Weg auf ein Feld, der mit dem Rad nicht zu befahren ist.
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Hinaus aus dem Wald aufs Feld

In Richtung Westen schlage ich eine hügelige Fährte ein, wo (vermutlich eine Kita) Holzscheite zu einem unbewohnbaren Wigwam gestapelt haben.
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Am südwestlichen Ende des Waldes finde über einen Ausgang mit einer Steintreppe aus dem Wald hinaus, überquere eine Straße und gelange in eine winzige Parkanlage, der der es verdächtig nach vergorenem Steinobst riecht. Bei dem Geruch muss ich immer an den Film Die lustige Welt der Tiere denken, in dem sich Paviane, Elefanten und andere Tiere an vergorenen Marulafrüchten betrunken essen. Und tatsächlich, ein paar Meter weiter erblicke ich auch schon eine ordentliche Ansammlung an roten Mirabellen, die in all ihrer fauligen Unschuld den Gehweg versperren.
mirabellen

Ich passiere eine Schule und folge immer der Nase nach drei Hauptstraßen, über die ich in das Zentrum von Hombruch gelange. Ein beschauliches Nest mit dem üblichen Rewe, dm, lokalen Bekleidungsläden sowie zwei bis drei Billigketten, von der eine das Lokal eines ehemaligen Geschäfts für Hifi-Geräte übernommen hat, wovon mehrere senkrecht an den Laden angebrachte Buchstabenschilder (RADIOS) zeugen. Vor einer Eisdiele genießen die Bewohner das wonnige Wetter.
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Klick hier, um dem beschaulichen Hombruch zu lauschen:
Bella Italia! Ein paar Meter weiter erfrischt man sich an einem Springbrunnen.
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Die Leute hier wissen offenbar, wie man lebt, Urlaubsfeeling schwirrt in der Luft. Und als ich mit dem Rad weiter fahre, lande ich potzblitz in einer Kurve, die original einer Straßenkurve in Sizilien gleicht.
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Kurve in Hombruch, Sizilien

Kaum habe ich den Sizilienvergleich zuende gedacht, pest auch schon das erste italienische Mofa um die Kurve. Der Himmel ist staubig, ich folge der Straße, vorbei an einem Karnevalskostümgroßhandel, an einer GoCart-Rennbahn mache ich kehrt und fahre instinktiv zum nächstbesten Friedhof: Am Markt der Gemeinde St. Clemens, sehr pittoresk und schnuckelig hinter flachem Gemäuer gelegen. Hier klingt es ganz anders als auf dem Südwestfriedhof. Man hört die Eisbechergelöffel der umliegenden Eisdielen, ein wenig Vogelgezwitscher und den Friedhofsgärtnerchef, der seinen Azubis Anweisungen gibt. Die einzig weibliche Azubi tut mir ein wenig leid, sie wird vom Chef wegen irgendeiner Sache zurechtgewiesen und fühlt sich offenbar zu einer Rechtfertigung gezwungen: Sie erzählt irgendeine Geschichte, sie habe eine Pflanze im Internet nachgeschaut etc, worauf sie aber wieder nur einen Rüffel von ihrem männlichen Cheffi erhält. Ich setze mich auf eine Bank gegenüber der Kapelle und studiere die Preisliste für Urnengräber, Urnenbaum- und andere Gräber ab dem vollendeten 5. Lebensjahr.

Klick hier, um dir den Friedhof am Markt St. Clemens anzuhören:

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Über einen kleinen Umweg via Barop fahre ich Richtung Norden zurück.


Samstag, 27.07.2024 Bolmke

Das Musikfestival Juicy Beats findet heute im Westfalenpark statt, Hauptact Cro. Ich muss an einen Schulfreund meines Sohnes denken, dem wir mal eine CD von Cro zum Kindergeburtstag (11 J.) gekauft haben, weil er sich die wünschte. Sonst sagt mir keiner der dicht an dicht gedrängten Bandnamen auf dem Plakat etwas. Wirklich Lust habe ich auf Rambazamba heute nicht so. Vor knapp drei Wochen verlebte ich in der Speicherstraße 100 einen grandiosen Abend mit Konzerten von drei Bands am Hafen (organisiert von Harbour Sounds). Die Hitze des Tages reichte noch bis in den späten Abend. Die Nähe zum Ufer und der Blick aufs Wasser entspannten und lockerten die Zungen während freundlicher Gespräche, ein erquicklicher Abend, nächsten Freitag wollte ich da mal wieder vorbeischauen. Aber heute bei Regen auf ein Musikfestival für Elfjährige im Westfalenpark gehen? :) Bis in die frühen Morgenstunden durch das nervtötende Klangspiel von dramatischem Privatfernsehen der quer gegenüber bei geöffneter Balkontür lebenden Nachbarn beschallt (Anmerkung: nicht, dass Missverständnisse aufkommen, ich finde alle Nachbarn abgesehen von ihrem späten TV-Konsum unheimlich reizend!!!) entscheide ich mich gegen noch mehr Krawall und für menschenleeres Freibad im Regen mit anschließender Radtour. Ob es beim Schwimmen regnet oder nicht, macht ja eigentlich auch keinen Unterschied. Der Himmel ist hellbeige mit schwarzen Schlieren durchzogen, der Strahl der Außendusche knallt auf den Beton. Als ich über die Leiter in das Becken steige, fühlt es sich so an, als würde sich die Luft bloß in Wasser auflösen, Luft und Wasser haben gleiche Temperatur. Die Mitarbeiter des Freibads nutzen den mau besuchten Nachmittag, um das Bad auf Vordermann zu bringen. In einem gelben Regenmantel bearbeitet ein Mitarbeiter den Beton mit einem Moosentfernungsgerät. Auch ist frisch gechlort worden, nach dem Schwimmen rieche ich stärker nach Chlor als sonst.
Es hat zu regnen aufgehört. Als ich das Fahrradschloss aufschließe, höre ich ganz deutlich Bühnenpopklänge in der Ferne, eine Klangwolke, die vom Juice Beats Festival herüberweht. Ich befeuchte meinen Finger und halte ihn in die Luft, der Wind steht ungünstig. Ich fahre mit dem Rad stadtauswärts weiter Richtung Süden, vorbei an einer Schrebergartenanlage und erreiche Bolmke, einen kleinen Park mit Waldanlage, eine der vielen Drehscheiben Dortmunds zwischen Stadt und Land. Ich mache Halt und schaue kurz zurück. Das gelbe Gestänge des Stadions blitzt noch hier und dort aus dem dichten Grün hervor. Drei Radfahrer passieren den Weg, Touristen, die amerikanisches Englisch reden. Ein weiterer Radfhhrer mit einem lauten Radio im Gepäckträger kommt an uns vorbei. Über eine Brücke überquert man die Emscher, folgt man dem Flußlauf gen Südosten erreicht man Hoerde. Die Strecke bin ich vom Phoenixsee schon einmal zurück Richtung Zentrum gefahren. Sanft fließt das Wasser nun unter der Brücke hindurch.
Klick um die ruhige Emscher, Radio und Radfahrer in Bolmke zu hören:

emscher
Folgt man dem Weg über die Brücke, gelangt man auf den Weg eines schummrigen Märchenwalds.
bolmke
Bolmke
Auf dem Weg in der Ferne sehe ich eine Frau mit einem Hund an der Leine, die sich der Brücke nähert. Sie scheint an einer Tube Sonnenmilch zu nuckeln, die sich im Verlauf der nächsten Sekunden als dunkelgelbe E-Zigarette entpuppen wird. Wie würde man Außerirdischen diese Welt erklären, denke ich manchmal.

Mittwoch, 18. Juli 2024, Stadionbad

An wärmeren Nachmittagen gehe ich ins Stadionbad. Hier wie auch im Südbad werden die Nachwehen der EM spürbar, auf Nebenbahnen schwimmen Menschen, die britisches Englisch miteinander reden, mit starkem Akzent, wahrscheinlich Nordengland. Pärchen, die vor ein paar Wochen nach Doitschland kamen, in der Hoffnung auf … Urlaubsplläne schmiedeten sie dafür Anfang des Jahres:

„Let's just book a vacation in Germany, some weeks in Dortmund, perhaps. When we are lucke, we can see the final game.“

Und nun, einige Tage nach dem Finalspiel, folgen lange böse Tage, an denen sie den herben Verlust zu verarbeiten und die restlichen Urlaubstage in Dortmund zu verbringen haben. Auf der Nebenbahn höre ich diesen oder einen ähnlichen Dialog mit:

„What a sunny day, hu, when it's rainy, we go to the Südbad in the centre of the city...“
„Hang on, isn't the Südbad the one quite close to that pub called The Londoner on Hohe Straße/Sonnenstraße?“
„Yes, where we were all peeing on the wall to the S-Bahn and it was smelling so bad for days and it took two rainy nights to wash the human liquid off the the buildings.“
„Yes, that was nice. But i feel so empty now! Especially when i think about this beer lunch in that pub and the following night!“
„Me too, let us just swim another lane, to forget about our emptiness.“
„We'll have to wait four more years to get our empty hearts filled with big fat leather balls.“
„What? I don't want to have a ball in my heart! It's too big, it might hurt.“
„But I do, shut up and keep on swimming, the lifeguards are already watching us standing here in water like useless buoys.“
They keep on swimming and talking.
„But the others must feel empty, too! The Germans, the Italians, the orange people...“
„Of course, they do, the Germans always feel empty, but they haven't fallen so deep as we have.“
„And they learned to be happy. Happiness in Germany, the concept of fun and satisfaction seems to be a big thing in Germany right now. Hahaha. Even the Deutsche Bahn tries to be funny and entertaining.“
„Haha, the Germans! Haha!“
He swallows water while laughing and reaches the other side of the lane.
„But laughing about the Germans doesn't help, I still feel empty inside.“
„Keep on swimming!“

So oder so ähnlich die Unterhaltungen der englischen Fußballtouris im Schwimmbad ein paar Tage nach der EM-Finale.

sbad

Am Tag vor dem Spiel (Niederlande gegen England) war es sehr heiß, das Stadionbad platzte aus allen Nähten, schwimmen konnte man in dem geräumigen Becken trotzdem noch ganz gut.
Stadionbad im Juli, klick hier zum Hören:

Samstag, 13.07.2024. Restaurantbesuch Maayas Express – Rheinische Straße

Den Flur zur Eingangstür teilt sich das kleine Restaurant mit einem Kiosk, der in seinem Schaufenster neben Dosenbier, Wodka und kleinen Kornflaschen auch Kilopackungen Gelierzucker (1:1) feilbietet.Die Ladentür zur stark befahrenen Hauptstraße steht offen, alle paar Minuten fahren Notarztwagen mit Martinshorn vorbei. Der Lärm, der in den Laden schallt, stört nicht. Vielmehr kann er als Requisite für ein Streetfood-Experience gedeutet werden. Vielleicht liegt es auch am Essen, das kaum Ablenkung zulässt; wenn die Umgebung laut ist, muss das Essen auch laut sein, denke ich. Man ist so mit den unterschiedlichen Eindrücken der Gewürze beschäftigt, dass die anderen Sinne erstmal lahmgelegt werden. Die Musik, die im Laden läuft, dient mehr als Untermalung, als dass sie sich in den Vordergrund drängt. Immer wieder kommen Leute in den Laden, um Essen zu bestellen und es dann in sehr großen prallen Tüten aus dem Laden zu tragen, eine insgesamt lebendige Atmosphäre. Im Hintergrund Knuspergeräusche von festgebackenem Fladenbrot. Die Bedienung ist mehr als entspannt, als wäre man zu Besuch bei einer gemütlichen Verwandten, die sich mit allem viel Zeit lässt. Andere Gäste unterhalten sich mit ihr über die Zubereitung des Essens und darüber, dass die Zutaten aus dem Laden an der Ecke kommen.

Audiofile Maayas Express, klick hier:

Die Nourrituren
Als Aperitif:
Schwarzer Tee mit Ingwer und Milch

Zur Vorspeise:
Mutton Roll knusprige Frühlingsrolle mit einer leicht scharfen Kartoffel-Lammfleischfüllung und Gewürzmischung aus Sri Lanka, 1,80 €

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Zur Hauptspeise:
Die Begleitung verzehrt Maayas Biryani Chicken
Hähnchenfleisch und aromatischer Bratreis in hausgemachter Spezialsauce mit frischem Koriander und Pfefferminzblättern, dazu Cashewnüsse, verfeinertes Auberginencurry, süß-scharfes Ananascurry, Tomaten-Zwiebel-Gurkensalat mit Joghurtsauce und gekochtem Ei,11,50 €

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Maayas Biryani Chicken

In der Mitte des stark gewürzten Reisbergs verbirgt sich eine kleine Hähnchenkeule. Wie sich im Verlauf des Verzehrs herausstellt, ist der Reis mit ganzen Nelken und Kardamonkapseln gewürzt. Ganzer Kardamon schmeckt besser als gemahlener, letzterer kann sehr dominant und scharf sein, durch die Kapseln wird dem Reis nur ein leichtes süßliches Aroma hinzugefügt. Das Gericht hätte laut Begleitung noch schärfer sein können.

Restauranttestergebnis: 8,5 von 10 Sternen!


Freitag, 12.07.2024, Die Glocken der Reinoldi-Kirche

In dem Artikel „[...] und die Zahl der Notleidenden ist hier gewaltig groß“ in der Zeitschrift Heimar Dortmund widmet sich Hannes Tutschku Dortmunder Stimmungsberichten aus dem Ersten Weltkrieg. In dem Absatz „Glocken und Kanonen“ beschreibt er den Metallmangel aufgrund benötigter Kanonen:
Es sollte möglichst alles dingfest und beschlagnahmt werden, was sich irgendwie zu Kanonen verarbeiten ließ, wie Glocken aus Bronze, Bierglasdecke und Bierkrugdeckel aus Zinn, Einrichtungsgegenstände aus Kupfer, Messing etc. Dazu gehörten etwa Türklopfer, Klinken, Schlüsselschilder, Griffe, Zierknöpfe. (Ebd. 2014, 7)
1917 wurden Richtlinien für die Beschlagnahmung der Glocken in der Provinz Westfalen erlassen, wobei historisch wertvolle Glocken vor der Zerstörung verschont bleiben sollten. Eine ebenso gewaltige, wie groteske Melde-, Sammel-, Begutachtungs- und Zerstörungsmaschinerie in Sachen kriegswichtigen Metalls war in Gang gesetzt worden. (Ebd.)
Hartwig Kersken vom Stadtarchiv Dortmund schreibt mir in einer Email folgendes:
Das alte Geläut der Reinoldikirche aus dem 19. Jahrhundert, bestehend aus vier Bronzeglocken, wurde nach dem 15. Juli 1917 vom Turm herabgelassen und danach für die Kriegsrüstung eingeschmolzen. Ausführende Unternehmen waren die Firmen Hanebeck und Kaupe.

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Die zum Einschmelzen heruntergelassenen Glocken vor der Reinoldikirche

Glockenklänge schwanden also aus der Klangsphäre der Stadt. Theodor Lessing schreibt in seiner Streischrift Lärm gewohnt lakonisch gegen den Klang von Kirchenglocken an:
Auf dem Lande, in ganz einfachen patriarchalischen Verhältnissen, in allgemein gleichartigen Sitten und Lebensbedingungen, da hat es schönen tiefen Sinn, wenn die Glocke zum Aufstehen, Vesper und Arbeitspausen mahnt, wenn sie Gebet und Tod, Gefahr und Freude, Morgen und Abend einläutet. Denn alle teilen ja beim gleichen Anlass die gleichen Gefühle. Alle orientieren sich willig an diesem Symbol. An Stätten dagegen, wo Menschen verschiedener Berufe, Daseinsformen und Arbeiten, verschiedenen Bekenntnisses und Weltgefühls eng beieinander wohnen und die Kirche viel weniger als jede praktisch wirtschaftliche Idee eine Vereinheitlichung des Lebens verwirklichen kann, da ist es störend, wenn sich Glockentöne, deren Bedeutung keiner fühlt und kennt, aus allen Richtungen der Windrose in Privatgefühle und Privatgedanken mengen. (Lessing, ebd. 99f.)

Was Lessing wohl über das Einschmelzen von Glocken geschrieben hätte? Und wie die Bewohner Dortmunds den Anblick der zur Zerstörung heruntergelassenen Glocken wohl empfanden?
Dass selbst Kirchenglocken für Kriegszwecke eingeschmolzen wurden, veranschaulicht das Verhältnis zwischen Härte und Material, im Krieg zählt bloß die Frage danach, wie Material in Härte übersetzt werden kann.

Glocken der Reinoldi-Kirche nach dem ersten Weltkrieg
Die als Ersatz beim Bochumer Verein bestellten Gussstahlglocken trugen die propagandistischen Namen  „Kaiserglocke“, „Hindenburgglocke“, „Lutherglocke“ und „Reinoldusglocke“. Dieses Geläut wurde wiederum im Zweiten Weltkrieg zerstört. Vorhanden ist nur noch die Kaiserglocke, die heute vor St. Reinoldi am Westenhellweg steht. Die heutigen sechs Glocken bestehen aus Stahl und befinden sich seit 1954 im Glockenstuhl. Heute hängt im Glockenturm ein Großgeläut der Gießerei Bochumer Verein aus dem Jahre 1954 mit einem Gesamtgewicht von 15,7 Tonnen. Es ist das zweitgrößte Gussstahlgeläut der Welt. glocken
Kaiserglocke vor der Reinoldikirche

Glocken der Reinoldi-Kirche, 11.07.2024 um 12 Uhr, die gegenüberliegende Kirche St. Marien setzt nach ca. einer Minute ein, klick hier zum Anhören:



Dienstag, 9. Juli 2024, Dorstfeld - Teil 2

Unweit des Wilhelmplatz in Dorstfeld befindet sich das Haus Schulte-Witten, dahinter eine großzügige öffentliche Parkanlage. Im Uhrturm des Hauses wurde im Sommer 1989 ein elektronisches Glockenspiel installiert, welches viermal am Tag erklingt. Das Glockenspiel sollte ursprünglich mit dem Steigerlied an den Bergbau in Dorstfeld erinnern. In den frühen 2000er Jahren wurde das Glockenspiel renoviert und das Repertoire mit dem Volkslied Wenn alle Brünnlein fließen erweitert, das ich von einer Bank im Park aus mitschneide.
Glockenspiel, klicke hier:

Glockenspiele liefern keinen Text, umso interessanter also, mal nachzuschauen, welche Worte sich hinter dem einfachen Gebimmel verbergen. Im Internet finde ich folgenden Text.
Wenn alle Brünnlein fließen, Liedtext
liedtext
Nach der eingehenderen Lektüre der verborgenen Textbotschaft des Glockenspiels frage ich mich: Welcher Brunnen? Wessen blaue Augen? Wessen Fuß, der subtil wessen Füße tritt, wessen rote Wangen? Und überhaupt: Was hat dieser antiquierte Schlager einer sehr selbstsicheren Liebe in Dortmund-Dorstfeld verloren? Vielleicht wollten die Verantwortlichen mit der Einführung des Brünnlein-Lieds und dem Ausboten des sich auf den Bergbau beziehenden Steigerlieds endgültig das Image Dortmunds als Arbeiterstadt untergraben, vermute ich. Auch der Mitarbeiter des Stadtarchivs kann mir nicht sagen, weshalb es zur Einführung des neuen Glockenspiels kam.
Als dilettantische Konzeptdenkerin by heart schwirren mir gleich unzählige Ideen durch den Kopf, wie dieses volkstümelige Gewese künstlerisch aufgebrochen werden könnte. Zwölf Glocken vermögen keinen Jazz und keine Vierteltonmusik zu erzeugen, aber vielleicht andere Lieder, die klanglich subtil mit der Umgebung Dorstfelds spielen. Warum lädt man nicht mal ein paar Künstler ein, die den Turm mit den Glocken für eine Woche für ihre Zwecke bespielen. Was sag ich?! Künstler? Die Anwohner selbst sollen die Programmierung bestimmen, ihre Lieblingssongs auf Zettel schreiben, die Zettel im Briefkasten des Haus Schulte-Witten einwerfen und dann wird die Musik einen Sommer lang durch die Nachbarschaft bespielt! Hm, vielleicht wäre dies auch etwas nervtötend :)

Auf die Lautsphäre von öffentlichen Glockenspielereien macht Theodor Lessing in seinem Buch Lärm aufmerksam:

Fast grausam ist es aber, Glockentürme oder Uhren mit Choralbegleitung und ähnlicher mechanischer Musikspielerei einer ganzen Stadt, unter deren Tausenden doch wahrscheinlich auch drei oder vier denkende Köpfe sich befinden, schlankweg aufzudrängen. Solche Musikkunstwerke (…) sind hübsch und respektabel, wenn sie uns hie und da einmal an entlegener Stelle begegnen, in der Sebalduskirche in Nürnberg, im Straßburger Münster, an der Rathausuhr in Prag. Aber ein reizbares, feines Gehör, ein kultiviertes Ohr empfindet dergleichen als Barbarei, wenn man (…) gezwungen wird, neben einem Kirchturm zu schlafen, von dem Stunde um Stunde dieselbe Choralmelodie seelenlos mechanisch herniederdröhnt, bis sie sich schließlich in jede Arbeit und sogar allmählich in die Träume schiebt und die gesamten Funktionen des Organismus sozusagen auf ihren Rhythmus dressiert, den man wofern solche Einwirkung in früher Jugendzeit erfolgt, sicher lebenslang nicht mehr aus dem Ohre bringt. Wie vornehm und würdig erscheint dagegen der einsame Ruf der Moslem (…) zur Stunde des Gebets, wie würdig das schweigende Anzünden des durch den Abend brennenden Synagogenlichtes, wenn die Stunde zur Einkehr gekommen ist.
(Lessing in Lärm 2023, S. 100f.)

Zwischen 9 und 18 Uhr erklingt aus dem Glockenturm des Haus Schulte-Witten jede Viertelstunde (!) der Westminsterschlag. Auf einer Bank in der Parkanlage sitzend versuche ich zu lesen, doch in einen Leseflow komme ich bei dem ständigen Gebimmel nicht, jede Viertelstunde werde ich daran erinnert, dass die Zeit um weitere fünfzehn Minuten vergangen ist. Glockentürme, wie der des Haus Schulte-Witten, die bei jeder vollen Stunde die Anzahl an Schlägen der Uhrzeit zum klingen bringen, haben leicht sadistischen Charakter, vor allem wenn es zwölf Uhr schlägt. Demgemäß macht Lessing in seiner Passage über den Glockenklang folgenden Vorschlag:

Schließlich möchte ich anregen, dass auch der Schlag der Turmuhren eingeschränkt werden möge. Ich sehe nicht ein, warum sie heute, wo auch der Ärmste eine Taschenuhr besitzt, jede Viertelstunde durch einen Schlag müssen; es würde genügen, wenn sie lediglich die vollen Stunden ausrufen und zwar jeweils durch einen einzigen Schlag (…).
(Lessing in Lärm 2023, S. 103)

Ja, dem stimme ich zu! :)


1. Juli 2024, Düsseldorf Düsterboys in Essen. Heavy bootlegging und neue Bekanntschaften

Die Regionalbahn soll eigentlich bis Duisburg durchfahren, kurz hinter Gelsenkirchen bei der Zeche Zollverein haltmachen. Doch ab Hauptbahnhog Gelsenkirchen geht hier heute gar nichts mehr. Alternativ soll es mit der Linie 107 nach Essen weitergehen, doch die fällt auch aus. An der Haltestelle im S-Bahn-Schacht viele Gleichgesinnte. Willst du auch zu Pact zu den Düsterboys? Ja. Die Bahn soll ja gleich kommen. Wir unterhalten uns über Musik, über Musik mit deutschen Texten und auf welchen Konzerten wir dieses Jahr schon waren. Die Linie 107 ist immer noch nicht da, es ist schon 18.30 Uhr und um 18.45 Uhr soll Einlass sein, nach 19 Uhr lassen die keinen mehr rein, steht auf dem ausgedruckten Ticket. Immer mehr junge und mittelalte Leute haben sich versammelt.
Taxi!, denke ich. Wir teilen uns ein Taxi, sage ich und schaue drei unbekannten Leuten ins Gesicht, alle noch etwas unentschieden, doch wir sind schon auf dem Weg zur Rolltreppe. Vorne der Taxistand, zur Zeche knapp 20 Euro, ein Fünfer für jeden. Zackdiwupp sitz ich auch schon auf der Rückbank zwischen Helen und Christin, vorne neben dem Taxifahrer Alex. Die Taxifahrt ist schon das Highlight an diesem Abend, ein bisschen wie Kontakteknüpfen bei ebay Kleinanzeigen. Man kennt die Leute nicht, mit denen man zu tun hat, steht mit ihnen in einem monetären Verhältnis und weiß, dass man letztendlich auf einen grünen Zweig miteinander kommen wird und ggf auch weiterhin in Kontakt bleibt. Alex und Christin sind aus Bochum angereist, Helen aus Dortmund. Dass das Ruhrgebiet eine große Stadt ist und man mal so von einem Ort zum anderen fährt, stimmt so nicht, meint Alex, vielleicht nur bei besonderen Events. Helen kennt den letzten Stadtschreiber und Christin den vorletzten. Beim Zielort angekommen, legen wir unsere Fünfer zusammen und laufen ins Pact. Helen trifft ihre Studienfreundin Isabel, die beiden müssen zu den Toiletten. Bis später, lass uns da drüben an der Garderobe treffen, wenn das Konzert vorbei ist.
In einem großen hellen Raum kann man an einer Theke Bier kaufen. Die Kühlanlage sei ausgefallen, das alkoholfreie Bier sei warm, sagt der Typ hinter der Theke. Ich kauf mir ein Radler, setze mich auf ein Kissen auf der Fensterbank und schaue in den Raum, mit den vielen Tischen erinnert er an eine alte Kantine. In meinem Rücken die Fensterscheibe. Ich drehe mich um, schaue aus dem Fenster, muss an den Wikipedia-Artikel über die Zeche Zollverein denken, den ich heute überflogen habe, und mir fällt ein, dass vor etwa zehn Jahren befreundete Stadtforscher den Ort als kulturelles Erbe für Promotionsvorhaben begleiteten.
Ich mache ein Foto von ein paar Relikten hinter der Scheibe. Die schönste Zeche von der ganzen Welt, denke ich, drehe mich wieder um, schaue mir das Foto auf dem Handydisplay an und trinke mein Radler aus der Flasche.
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Die schönste Zeche von der ganzen Welt :)

Kurz darauf ist Einlass, über Treppen geht es in einen bestuhlten Raum mit steilen Rängen. Ich sitz relativ vorne in der Mitte. Aus den Lautsprechern schallt WDR4, neben mir ein Mädchen Anfang Zwanzig mit Wolfcut, den so viele hier tragen. Sie ist etwas nervös, hibbelt auf ihrem Sitzplatz rum, zupft am Bund ihres Oberteils. Als zünftige Marschmusik aus den WDR4-Boxen kommt, trommelt sie wild mit beiden Handflächen im Takt der Musik auf ihren Armlehnen. Eigentlich ganz sympathisch. Die Radiobeschallung ist penetrant laut, kein Wunder, dass die Leute hier hibbelig werden. Ich schaue zu ihr rüber, sie schaut mich an und kiekst. In der Reihe vor mir unterhält eine Endzwanzigerin ihre Freunde mit einer Erörterung über den Unterschied zwischen dem Verhalten von Kölnern (warm, herzlich) und Düsseldorfern (kühl, arrogant, distanziert). Ob jemand aus Köln oder Dösseldorf sei, könne man schon in den ersten Sekundenbruchteilen erkennen. Sie ist richtig engagiert bei der Sache, und ihre Sitznachbarin pflichtet ihr bei. Oje, ich weiß ja auch nicht … Ich glaube ja, dass Kühle manchmal auch Ausdruck einer gewissen Aufrichtigkeit ist, möchte die Theorien über dieses Gespräch aber thematisch auch nicht weiter anreichern. :)
Um 19 Uhr schallt WDR4 die Nachrichten in den Raum, mit anschließendem Verkehrsbericht über die Autobahnen in NRW, das Radiodings muss wohl doch zur Show gehören, denke ich. Es folgt eine Klassiksendung zum Thema Fantasie. Quasi una fantasia, erklärt der Moderator in antiquierter Pose und Beethovens Beinahe-Fantasie schallt durch den Raum. Ich frag mich die ganze Zeit, ob das live-Radio ist, aber muss ja, weil die in den Nachrichten irgendwas von Fußball gesagt haben. Später, während des Konzerts, wird ein durch ein Mikrofon verstärktes Radio zum Nebenakteur der Show, find ich gut, bin ja Radiofan. Vor tosender Klassik tauchen die zwei Männer mit den drei Gitarren in der Dunkelheit auf dem Bühnenraum auf.


*Heavy bootleg*, zum Anhören der Klangkulisse vor dem Konzert inklusive WDR4 und aufgeregtem Publikum, klick hier:




Zum Konzert möchte ich gar nicht viel schreiben, Isabel wird auf dem Weg zur Bushaltestelle später noch sagen, dass sie es schwierig findet, anderen Leuten die Musik der Düsterboys zu erklären, zwei Männer mit Gitarren, sagt sie, aber da höre es auch schon auf mit den passenden Worten. Ich finde die Zweistimmigkeit besonders, die beiden Stimmen lavieren umeinander wie weiche Bewegungen von zwei Synchronschwimmern, die sich unter Wasser auch mal aus Versehen berühren oder so. Ist wieder diese Art von Konzert, die keine Schallplatte ersetzt, es geht um den reinen vergänglichen Moment.
Helen kommt zur Garderobe. Ob ich auch noch eine Weile hier bleiben möchte, fragt sie. Ich mach mir ein wenig Sorgen bezüglich der Rückreise, die wieder kompliziert werden könnte, finde es aber supernett, dass hier gerade so Verbindlichkeiten abgehen, folge ihr wieder zurück in den großen Kantinenraum und kauf mir ein Radler. Da vorn seh ich Daniel sitzen, den Fotografen vom Bodo-Magazin, bisschen so, als würde ich in Berlin Bekannte treffen. Wir unterhalten uns über das Konzert und Konzerte, auf denen er zuletzt war, das letzte Bodo-Fotoshooting und ein Konzert seines kleinen Sohnes, auf dem er heute war. Er fragt, wie es mir so ergeht, ich sage, ganz gut, dass es auch gut ist, mal auf sein Gefühl zu hören und auch mal nach Hause nach Berlin zu fahren. Sommer in Berlin ist schon gut, mit dem Fahrrad über die Karl-Marx-Allee zu fahren, erinnert mich immer an den allerersten Sommer in Berlin 2005. Ooh shit, Berlin-Talk wollte ich mir eigentlich abgewöhnen, vor allem weil es mich doch von dem Ort, an dem ich gerade lebe, doch so entfernt. Aber naja, Sommer in Berlin ist schon gut. In Dortmund kennt jeder jeden um zwei Ecken, was mir eher unangenehm ist, sage ich und fange an, von der Anonymität zu schwärmen, wegen der man ja auch nach Berlin gekommen sei, um mal frei von allen und jeden Erwartungen zu sein, und Torsten möchte gerade anfangen, von den Netzwerken in Dortmund zu reden, da kommt Helen, sie würden dann in einer Viertelstunde losgehen, ob ich mich noch draußen mit ihr und Isabel hinsetzen mag. Die beiden schnorren sich noch zwei Zigaretten und wir laufen zu dritt zur Bushaltestelle, Isabel erzählt, sie wäre einmal einer total guten Kneipe gewesen, sie schaut in ihr Handy, um den Namen herauszufinden: Taranta Babu hieß die, sagt sie. Helen und ich müssen lachen, wer mag Taranta Babu nicht! Auf der Fahrt mit dem Linienbus nach Gelsenkirchen (awww) unterhalten wir uns über deren Studium der vergleichenden Literaturwissenschaften in Bochum, über Bücher, die sie in ihrem Französisch-Seminar gelesen haben, und über Dortmund und Bochum im Allgemeinen. Helen ist in Dortmund aufgewachsen, aber schon so oft umgezogen, dass sie sich dort nirgends zu Hause fühlt. Bochum sei da mehr ihr Zuhause.
Am Bahnhof in Gelsenkirchen verabschieden Helen und ich Isabel und laufen einem Pulk englischer Fußballfans hinterher in eine Regionalbahn nach Dortmund. Die Engländer tönen durchs gesamte Abteil, wir müssen laut reden, um uns zu verstehen. Als Helen geboren wurde, hab ich Abi gemacht. Wir unterhalten uns über die Großelterngeneration, über Filme, die wir beide gesehen haben und beide gut finden, über Länder, in denen wir beide gerne reisen, über das Praktikum, das sie gerade am Campusradio macht, über ihre Beziehung zu ihren Eltern und die zu meinen Eltern. Sehr sehr angenehm. Am Bahnhof in Dortmund tauschen wir Handynummern und verabschieden uns voneinander. War ein schöner Abend, dankeschön!


30.06.2024. Dortmund is united by rain

Am Bahnhof angekommen laufe ich am 29.06. die Friedrichstraße hoch, dann über die Möllerbrücke, Autokorsos mit Deutschlandfahnen hupen vor sich hin, Rumpelrewe hat noch geöffnet, auch die Tapasbar zeigt sich unbeeindruckt von dem heutigen Fußballspiel. Die Kneipe Bürgermeister Lindemann hat all ihre Türen weit geöffnet, ein großer Monitor mit hellgrün leuchtendem Bild zeigt zur Straße, die üblichen tätowierten bärtigen Typen mit kahlrasierten Haaren stehen davor (müsst ihr mal drauf achten: je weniger Haare Typen auf dem Kopf tragen, umso mehr haben sie im Gesicht!) Autos halten an der Ampelkreuzung Neuer Graben, ein Autofahrer nutzt die Pause, kurbelt die Fensterscheibe herunter. „Wieviel stehts?“, ruft er einem Bürgermeister Lindemann zu, der dem Autofahrer „Null zu Null, wir schaffen das noch!“ zurückruft. Deutsche Solidarität on both sides. Der laue Abendhimmel zieht sich über den Dächern der Stadt dunkel zusammen. Mein Nachbar gegenüber hat seinen Balkon hübsch gemacht, neben einer Deutschland- und einer Schweizflagge steckt ein schwarzrotgoldener Plüschhut auf einem Stock in einem Blumentopf. Nach etwa zwanzig Minuten holt er den Hut rein, denn es hat von jetzt auf gleich zu regnen begonnen, als würden die Regentonnen der letzten beiden Regenwochen auf einmal auf diese Stadt ausgeschüttet. Auch im Stadion auf dem Bildschirm des Laptops regnet es, das Fußballspiel wird unterbrochen. Arbeiter im Stadtion kehren Wasser mit Besen von Tribünen, Männer stochern mit Stöcken in der Wiese herum, wahrscheinlich damit das Wasser besser absickert. Die drei Moderations-Muppets improvisieren ein Scandi-Talk über Dänemark und seine Fans. Der mit der Brille (Mertesacker) trotz Brille dämliche Allgemeinplätze über das „lustige nordische Volk“, kartoffeliger geht die Unterhaltung ja eigentlich nicht mehr. Irgendwann wird wieder gespielt. Doitschland gewinnt. Kein gelber Kartenregen, keine allzu fiesen Fouls, keine Schlägerei, dafür nüchterne Videoanalyse des Schiris. „Ich trainiere viel und schieß gern Elfmeter“, sagt Kai Havertz nach dem Spiel brav ins Mikro. Währenddessen rollt in Dortmund auch schon das nächste Gewitter heran und mit diesem auch die deutschen Fans, die vom Stadion über die Lindemannstraße laufen und gröhlen. Es rumort, es prasselt, und die Abstände zwischen Blitz und Donner werden immer kleiner. Eine abgedroschene Dramaturgie: Mit zunehmendem Gewitter wird auch das Gegröhle der Fans immer lauter, klick hier um es anzuhören:


Es regnet die ganze Nacht bis zum nächsten Mittag.
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25.06.2024 - Spaziergang über die Schnettkerbrücke

Den Tremoniapark verlasse ich bei meinen abendlichen Spaziergängen jedes Mal über den Leierweg. Folgt man diesen weiter Richtung Süden, gelangt man vor der Linkskurve auf einen Trampelpfad, der unter die Schnettkerbrücke, die Autobahnbrücke der A40, hindurchführt. Die durchsichtigen Lärmschutzwände spiegeln das Sonnenlicht Orange, und auch der kleine geheime Skateplatz, den einige Engagierte ganz dicht unter dem Boden der Brücke gebaut und mit bunten Graffitits schön gemacht haben, wird durch das untergehende Licht durchflutet.
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Über eine Steintreppe erreicht man die Brücke, was ich erst sehe, nachdem ich die steile Böschung hochgekraxelt bin. Ich laufe über die Brücke, die Sonne scheint durch die transparente Schallschutzwand, schemenhaft rasen die Autos dahinter vorbei.
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Andere Spaziergänger kommen mir entgegen, führen ihre Hunde Gassi, es ist 20 Uhr, die Zeit zwischen zwei Fußballspielen. Auf der Mitte des Brückenwegs mache ich halt, unter mir die Schienen des Güterverkehrs, wie ein ruhiger Flußlauf im Grünen.
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Auf der anderen Brückenseite angekommen, mache ich wieder kehrt und laufe am Mercedeswerk vorbei Richtung Stadion. Hier eins der vielen "Dortmund is united by Football"-Schilder. Ich mache ein Foto und überlege auf dem gesamten Heimwerk, welche Begriffe man statt "Football" einfügen könnte, die absurdesten gewinnen, siehe unten :)

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Veranstaltungshinweis "Schreiben im Flow/Silent Writing"
1., 8., 15. und 22. Juli (montags) ab 17 Uhr"

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Die Abende sind nicht zusammenhängend und bauen nicht aufeinander auf, so sind auch Neueinsteiger stets herzlich willkommen. Deutsch ist nicht zwingend Schreibsprache. So wie jede*r Schreibende es am besten kann.

Die Teilnahme ist kostenlos. Bitte bringen Sie eigenes Papier und einen Stift mit.

Wegen begrenzter Platzanzahl ist eine Voranmeldung unter VeranstaltungenZB@stadtdo.de oder 0231 50-16584 nötig!

Veranstaltungsort
Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Studio B
Max-von-der-Grün-Platz 1-3
44137 Dortmund


*20.06.2024* St. Reinoldi. Namen lesen – 24 Stunden Gedenkaktion
 St. Reinoldi. Gegen das Vergessen klick hier:

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*18.06.2024* Regen und Hoesch in Dortmund
Schön, dieser Regen in Dortmund, fast so schön wie in Großbritannien hier. Mehr als Podcast hören kann man bei diesem Wetter nicht, unter Kopfhörern lausche ich den Stimmen des höchst informativen Podcast HOESCH.150 - WIE STAHL EINE STADT PRÄGT. Hab letztens Ilona kennengelernt, die ehrenamtlich im Soez arbeitet. Sie hat dreißig Jahre lang bei Hoesch gearbeitet und kann damit wohl als Hoeschianerin bezeichnet werden. Die Transformation der Firma über die Jahre, die Übernahme durch andere Unternehmen und die Veränderungen der allgemeinen Arbeitsprozesse hat sie am eigenen Leib erfahren.
Der Regen draußen tobt immer lauter, im Podcast geht es nun um die Gründung der Firma: die Standortverlagerung der gut betuchten Familie Hoesch von der Eifel ins Ruhrgebiet. Und hier schließt sich der Kreis vom hier und jetzt ins regnerische Großbritannien: Denn einer der drei Eberhards der Familie war vor Firmengründung auf einer Studienreise in den damals innovativen Puddelwerken in England (Vorreiter der industriellen Revolution). Eberhard Hoesch war dort sozusagen „zur Industriespionage“, erklären die Podcaster, und konnte die Arbeitsprozesse, die für das zukünftige Unternehmen wichtig sein würden, genauestens studieren. Industriespionage werden wohl heute noch rechtlich geahndet, überlege ich: Das wird deutlich, wenn Armin von der Sendung mit der Maus einige Arbeitsschritte seiner Sachgeschichte, die in einer Fabrik spielt, überspringt - mit der Erklärung: „Und an dieser Stelle mussten wir die Kamera ausschalten, da dies das Geheimnis des Unternehmens bleiben soll."
Ah, der Regen hat immer noch nicht nachgelassen. Fast wie in England hier. Gleich kommen noch die Fußballhooligans und die Geräuschkulisse ist komplett. :)

*Audiofile*: Regen in Dortmund, klick hier zum Anhören:
*Hörtipp: Man kann die File auch (bei geöffnetem Fenster) mit dem Regen draußen zusammen hören, das ergibt dann so einen Hifi-Regen. :)
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*16.06.2024* Besuch der toten Gleise der Hoesch-Bahn. Revolution machen mit Dietrich Lacker
Dietrich Lacker kontaktierte mich vor etwa drei Wochen via E-Mail, weil er mir die toten Gleise der Hoesch-Bahn auf der Brücke am Gleisdreieck Gronaustraße/Oestermärsch und die darunter liegenden Zugstrecken zeigen möchte. Die Trasse soll einmal zu einem Radweg ausgebaut werden, schreibt er, Subkultur gebe es auch in der Nähe. Er selbst habe seit Jahresbeginn ein kleines Atelier in einem benachbarten Hinterhof, wo sich zudem Musiker aus verschiedenen Nationen träfen, der direkt an der ICE-Strecke liege.
Ich bin schwer beeindruckt, als ich am Montag Vormittag durch eine gelb gestrichene Eisentür einen schlauchartigen Gang unter dem Wohnhaus betrete, über den man den großzügigen bebauten Hinterhof erreicht. Auf dem Gelände ein auf den ersten Blick provisorisch zusammengebautes Gebäude, das sich als recht geräumig erweist.
Dietrich trägt ein Hörgerät, deshalb versuchen wird während der Unterhaltung Gesichtskontakt zu halten. Er erzählt, dass er seit Anfang des Jahres hier in dem Atelier sei und zeigt mir sein aufgeräumtes Atelier, in deren Ecken er hie und dort ein paar Werke aufgestellt hat. Als Kunsthandwerker verarbeitet er altes Werkzeug zu dekorativen Elementen.
Aufgewachsen in der Eifel und nach einer Zeit in Köln kam er 1975 ins Ruhrgebiet. „Eigentlich um hier die Revolution zu machen, hat aber nicht funktioniert“, erklärt er und lacht. In Köln habe er beim SSK am Salierring in selbstorganisierten Werkstätten für Erwerbslose gearbeitet. „Mit Arbeitslosen, Obdachlosen und Menschen, die aus Heimen oder psychiatrischen Einrichtungen abgehauen waren, haben wir versucht, zusammen das Leben zu organisieren, und einen freieren Lebensraum aufzubauen, mit Entrümpelungen und Gebrauchtmöbelverkauf.“ Doch da es irgendwann so viele Studenten waren, die auf freiwilliger Basis unbezahlt mitgearbeitet haben, ist er mit vier anderen Leuten 1975 nach Dortmund gekommen, um in der Hausbesetzerszene aktiv zu werden. Von 1981 bis 2015 lebte er in einem Haus in der Nähe des Fredenbaumparks.

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Dietrich L. In seinem Werkstattatelier

In der Werkstatt hier im Hinterhof arbeitet er in den frühen Stunden bis zum Nachmittag, wenn noch keiner da ist, später kommen die Musiker, erzählt er. Samstags finden auch Sessions statt, doch er mag die Ruhe am Morgen, die Nächte schlägt er sich nicht mehr um die Ohren. Er führt mich durch einen großen Raum mit einer Küchenzeile und zeigt in einen mit Teppich ausgelegten Raum, in dem ein Schlagzeug, Verstärker, viele Trommeln, Gitarren und andere Instrumente stehen.
Dann kommt Mossi, ein iranischer Künstler, mit seiner Hündin Anouk in den Hinterhof. Über Dietrichs Arbeitsraum liegt dessen Atelier, das man über eine Eisentreppe erreicht, hier arbeitet er an Gemälden. Wir wechseln ein paar Worte, bevor ich mit Dietrich zur Bahntrasse aufbreche. Auf dem Weg zur Brücke am Gleisdreieck erzählt er mir von seiner Tochter, die in meinem Alter ist, ebenfalls in Berlin lebt und auch ein Kind hat. Wir laufen etwa fünfzig Meter die Gronaustraße entlang, bis Dietrich vor mir die Böschung hinaufklettert, ich hinterher. In dem sandigen Boden liegen einige gebrauchte Heroinspritzen, je weiter wir die Böschung hochklettern, umso vermüllter wird es. Nach etwa sechs Metern, auf der Zwischenstation, scheint jemand seinen gesamten Hausrat abgeladen zu haben, ein alter Buggy, Kleidung, ein Couchtisch aus Holz – was für ein Aufwand, die Sachen hier hochgetragen zu haben, denken wir. Und irgendwie ist so ein Sperrmüllhaufen ganz schön privat, denke ich, so dass ich das Foto davon auch nicht veröffentliche.
Noch ein paar weitere Meter die Böschung hinauf und wir haben die alte Trasse erreicht. Tote Gleise der ehemaligen Hoesch-Bahn, so still so leise, kein Waggon rollt. Eines Tages soll das mal zu einem Radweg umgebaut werden. Wie die Schienen herausgehebelt werden, was wohl dann mit dem ganzen Eisen geschieht?

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Wir setzen unseren Weg geradewegs über die Schwellen der Trasse Richtung Brücke fort. Am Rand verteilt immer wieder Heroinspritzen, Bierflaschen, Unrat, ein benutzter Schwangerschaftstest, lappenähnliche Textilien. Kurz vor der Brücke hat sich jemand ein Lager aufgebaut. Auf der einen Seite hat man hier seine Ruhe, jedenfalls vor anderen Menschen, doch wenn alle Züge (der ICE nach Berlin oder der nach Hamburg sowie der Zug nach Münster und die Straßenbahn) zur gleichen Zeit hier durchfahren, ist es hier unheimlich laut. Dietrich freut sich über das Treiben der Bahnen unter der Brücke. „Da ist man als jemand, der die Hörgeräte ausschalten kann, um den Krach auszublenden, ganz gut bedient“, sagt er. Was sich hier alles kreuzt! Eigentlich fehlt nur noch der Flugverkehr. :)

*AUDIO HIER* Auf der Brücke der Hoesch-Bahn am Gleisdreieck, Züge kreuzen den Weg, klick hier zum Anhören
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Aussicht vom Gleisdreieck

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Auf der Brücke sind die Brombeerhecken mittlerweile so hoch gewachsen, dass wir nicht weiter kommen.

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Es war ein schöner Spaziergang, die stillgelegte Trasse ist ein wunderbarer Ort zum Abschalten. Ich werde nochmal vorbeikommen, vielleicht, um bessere Aufnahmen zu machen, um irgendwas zu schreiben oder bloß, um im September dann ein paar Brombeeren zu pflücken. Ich weiß gar nicht, ob ich dies überhaupt so offen sagen darf; Dietrich war bislang die angenehmste Person, die ich in Dortmund getroffen habe. Er war hier auch der erste, der mir viel Ruhe in dieser Stadt wünschte, auch für die Arbeit an meinem Roman. Das fand ich sehr aufmerksam, vor allem weil wir darüber kaum geredet haben. Als Kunsthandwerker braucht auch er den Rückzug und Zeit für sich und seine Arbeit. :) Danke, Dietrich. Ist wohl gar nicht so übel, älter zu werden. Den Part über die Psychiatrieentflohenen find ich jetzt im Nachhinein besonders interessant, werde ihn bei Gelegenheit nochmal darauf ansprechen.
Und jetzt mal weiterschauen, wer hier noch alles so welche Revolution macht ... :)


Donnerstag, 14.06.2024, Rumpelrewe und magischer Lift zum Pfandautomaten

Gaaaanz wichtiges Gesprächsthema: Supermärkte. Irgendwann um 2003 herum gab es mal eine Studie darüber, wo welche Berufsgruppe einkauft. Aus dieser Studie ging hervor, dass Akademiker es vorziehen, bei Aldi einzukaufen, weil ein kleines Sortiment weniger Zeitverlust verspricht. In Bezug auf den Zeitfaktor und die allgemeine Wahrnehmung von Supermärkten hat mich diese Studie schwer geprägt. Ein wenig enttäuscht war ich hier in Dortmund schon, als ich die paar Aldi-Nord-Filialen gesehen habe, ich hatte auf Aldi Süd gehofft. Aber für Aldi-Süd, so erzählte man mir, müsste ich ein paar Kilometer weiter nach Hagen fahren. :)
Wo du deine Tomaten und Kartoffeln kaufst und wo nicht, ist für die Einwohner Dortmunds jedenfalls ein großes Thema! In den ersten Wochen war ich viel bei Rewe an der Möllerbrücke. Der Laden ist wie das schiefe Haus auf dem Jahrmarkt: Wo der Eingang ist, wo der Ausgang? Verkaufsstehlen versperrten labyrinthisch beim Abbiegen in einen weiteren engen Gang den Weg, Regalbrett türmte sich auf Regalbrett, vor lauter Produkten sah ich kein Produkt mehr. Und warum lief ich eigentlich immer ohne Einkaufswagen durch den Laden? Doch nur, weil ich zuvor gar keine gesehen hatte. Nach dem Bezahlen an der Kasse überkam mich beim Anblick der verschwommenen Bricolage aus Blumenladen, Bäckerei- und Grilltheke regelmäßig Schwindel und ich fragte mich, wohin plötzlich der angrenzende Getränkemarkt verschwunden war, den ich beim Betreten des mystisch düsteren Eingangsflurs noch im Augenwinkel erhascht hatte.
Nach einem Gespräch über meine Erlebnisse im Rumpel-Rewe mit C., hielt dieser dagegen: „Rumpel-Rewe?!“, sagte er konsterniert und wies mich darauf hin, dass es dort vor dem Umbau noch um einiges rumpeliger gewesen sei. „Umbau?“, fragte ich verdattert, und noch bevor ich in Beschreibungen dieser Örtlichkeit einfiel, winkt er müde ab und wandt ein - und das sei der ausschlaggebende Grund seiner nunmehr fünfzehnjährigen Rewe-Treue - seien die Mitarbeiter: „Alles zufriedene Menschen“, meinte er, ganz im Gegensatz zu den Mitarbeiter:innen im geleckten Edeka am Sonnenplatz, mit denen er durchweg schlechte Erfahrungen gemacht habe.
„Interessant“, sagte ich, „ich fand die eigentlich alle immer ganz nett, die haben mir immer ganz geduldig erklärt, dass ich mein Münzgeld beim Bezahlen da in dieses grünaufleuchtende Schubfach stecken soll.“ Aber was wusste ich mit meiner knapp sechs Wochen alten Edeka-Rewe-Erfahrung schon über Dortmunder Supermärkte....

Ob ich denn schon den Aufzug zu der Tiefgarage zu den Abgabeautomaten für die Flaschen für den Einmalpfand gewesen sei?, fragte C. mich dann. „Da hat es mal einen Bericht drüber gegeben, unter dem Titel Unorte in Dortmund“.
Nein, sagte ich, das klinge interessant, und versprach ihm, Rumpel-Rewe doch nochmal eine Chance zu geben.
Die Woche drauf fahre ich zu Rumpel-Rewe in der Hoffnung, meine Wahrnehmung hätte mich bei den letzten Malen einfach getäuscht. Doch leicht überfordert stehe ich nach Marsch durch den Eingangsschlauch erneut in der altbekannten Alice-im-Wunderland-Kulisse und entscheide mich zum Selbstschutz, es heute bei dem Besuch der Flaschenabgabeautomaten in der Tiefgarage zu belassen. Nachdem ich die Frau hinter der Blumenbrötchenhalbeshähnchentulpentheke nach dem Weg zum magischen Aufzug gefragt habe, stehe ich schon im unscheinbaren Lift, der in die Unterwelten der Tiefgarage führt. Sobald sich - unten angekommen - die Aufzugstür öffnet, schlägt mir ein geifernder Dunst entgegen, der nur schwer zu umschreiben ist. Wirklich schade, dass es noch kein Geruchsinternet gibt. Die Luft ist gifitg erfüllt, als hätte man alle noch vorindustriellen Bierabfälle mit irgendwelchen Bakterien versetzt und das faulige Gemisch durch einen geruchsverstärkenden Ventilator gejagt. Vorne in der Ecke steht er, der Pfandflaschenautomat, geruchslose Unschuld vorgaukelnd, wie ein Ticketautomat. Der Sound des Aufzugs ist dagegen richtig harmlos, siehe hier.

Fahrt mit dem Lift zur Tiefgarage, klick hier zum Hören:


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Lift in der Tiefgarage

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Flaschenrückgabeautomat in der Rewe-Tiefgarage





Mittwoch, 13.06.2024, Das Bodo-Glöckchen

Nach einem Termin in der Nordstadt kam ich diese Woche im Schwanenwall zufällig am Buchladen des Bodo e.V. vorbei. Die überaus professionellen und sympathischen Journalisten vom Bodo Straßenmagazin hatten mich erst kürzlich für die Juni-Ausgabe interviewt. Das Heft kann (für den guten Zweck) für 3,50 Euro erworben werden.
Ich bin mehr als begeistert von der gemeinnützigen Organisation, die sich in Bochum (Bo), Dortmund (Do) und der Umgebung aktiv gegen Obdachlosigkeit engagiert. In einem Blog informiert der Verein regelmäßig über dies betreffende aktuelle Themen und stellt relevante Fragen des Zusammenlebens in der Stadt, die gerne ignoriert werden. Was bedeutet die bald anstehende Fußball-EM zum Beispiel für Obdachlose? Dieser lesenswerte Artikel z.B. ließ mich aufhorchen.

Der Buchladen
Beim Betreten des modernen Antiquariats am Schwanenwall 36-38 wird man von einem freundlichen Ladenglöckchen begrüßt, im hinteren Teil des Ladens werden gerade Bücher sortiert. Die Auswahl der Bücher ist erlesen, ich stöbere durch die wohlsortierten Regale und entscheide mich für einen Kurzgeschichtenband des japanischen Autoren Yasushi Inoue, das ich an diesem Abend in einem Rutsch weglese und am Folgetag per Schneckenpost meiner Freundin K. in Oldenburg schicke, da ich weiß, dass auch sie das Buch mag.
Buchliebhabern ist der Laden wirklich ans Herz zu legen.
Unten eine Hörprobe des Ladenglöckchens :) Wenn nur an jedem Laden ein freundliches Glöckchen am Rahmen der Eingangstür angebracht wäre.

Glöckchen im Bodo-Buchladen, Aufnahme insgesamt gekürzt, klick hier zum Hören:





10.06.2024, Dorstfeld, Teil 1
Klar gehöre ich zu den Leuten, die erstmal an bestimmten Orten selbst gewesen sein wollen, um über diese reden zu können. Orte mit schlechtem Ruf tun mir ganz schnell leid, weil es selbst an diesen Orten freundliche Nischen gibt, die es doch auch medial aufzuplustern gilt. Informanten haben mich natürlich schon im Vorfeld über die unappetitlichen rechten Zellen in Dorstfeld aufgeklärt. Unweigerlich kommt mir der Weitling-Kiez im Berliner Bezirk Lichtenberg in den Sinn, der schon zu Vorwendezeiten ein beliebter Treffpunkt für Ostberliner Neonazis war. Ab 1990 professionalisierte sich die Neonazi-Szene durch Hausbesetzungen in der Weitlingstraße. Neonazikader nutzten den Ort, um Schulungen durchzuführen. Wie es um den Weitlingkiez gegenwärtig steht, kann ich gar nicht genau sagen, die sichtbaren rechten Zellen wurden wohl zerschlagen, (während die rechte Gesinnung weiter zunimmt ...). Rein optisch hat Lichtenberg aufgrund der starken Begrünung, den pittoresken Altbauten und dem dörflich anmutenden Kaskelkiez stark an Ansehen gewonnen.
In Berlin war es bis vor kurzem nur eine Frage der Zeit, wann sich Studierende oder kreative Underdogs den unbeliebteren Stadtteilen annehmen, die Räume für ihre Zwecke nutzten, und einige von ihnen dann kaum zehn Jahre später Kinder bekamen, Ladenlokale mit neu eröffneten Kinderläden beglückten, sich beruflich professionalisierten und sich dann auch die hochpreisigen Mieten leisten konnten etc pp. Davon abgesehen, dass bezahlbarer Wohnraum immer knapper geworden ist, und studierende Neuankömmlinge nicht selten auf überteuerte Student:innenwohnheime ausweichen müssen, steht der Wandel von Stadtteilen auch immer in starker Abhängigkeit von der individuellen Entwicklung der Menschen, die in diesen Vierteln leben. Natürlich ist so ein Wandel, wenn er in rasanten Schüben und sehr einseitig vonstatten geht, zu kritisieren. [Ich möchte das hier nicht noch akademischer ausführen und darüber auch nicht weiter belehrt werden; darüber habe ich eine Doktorarbeit geschrieben …].
Die Frage, wie sich Dortmund entwickelt, kann ich an dieser Stelle nicht beantworten. Interessant ist jedoch der erste Eindruck, dass sich die Stadt nicht (wie Berlin) vom Zentrum aus in gleichen Teilen wie in Ringen einer Baumscheibe nach Außen weiter umkrempelt.
Über das Image eines Stadtteils entscheidet auch in großen Teilen die mediale Produktion dieser Orte. Hat ein Viertel einmal einen bestimmten Ruf, kriegt er ihn nicht mehr so leicht los. Schade eigentlich, denn würden sich die Einwohner nicht so stark von diesen Bildern beeindrucken lassen, würden sie totgeglaubte Nischen erobern. Heute war ich übrigens an so einem Ort in der Nordstadt, über den ich aber hier (noch nicht) öffentlich schreiben möchte, da ich mir sorgfältig überlegen muss, wie und ob ich überhaupt darüber schreiben kann. Denn diese kleinen urbanen nachbarschaftlichen Oasen gilt es auch immer vor zuviel Ansturm und medialer Aufmerksamkeit zu schützen, damit sie nicht eines Tages größeren Projekten anheimfallen.
Ok, genug der großen kryptischen Worte. Zurück zu Dorstfeld, wo ich letztens mit dem Fahrrad unterwegs war. Am Wilhelmplatz machte ich bei Rodnik halt, einem Supermarkt für russische und polnische Lebensmittel.
Rodnik, Wilhelmplatz, klick hier zum Hören:

Ich mag solche Läden ja ganz gern, weil man immer irgendetwas anderes findet als bei Rewe, Netto oder Edeka. Ein Dessertpulver unter dem Namen КцсеЛв weckte aufgrund der farbenfrohen Gestaltung der Verpackung mein Interesse und auch, dass die Ukraine als Herstellerland für diesen Himbeerpudding angegeben war. In der Zutatenliste befanden sich auch einige Farbstoffe der Gruppe E, die in rauen Mengen zu Konzentrationsstörungen führen sollen. In dieser kleinen Wackelpuddingdosis sicher ok, sagte ich mir und dachte an meine weise Freundin R. aus Köln, die in einem spannenden Gespräch über aluminiumhaltige Deodorants einmal zu mir meinte, sie rauche keine Zigaretten, da könne sie mehr oder weniger bedenkenlos Aluminiumdeos benutzen. Manchmal überlege ich seitdem, welche Konsumprodukte ich meiden sollte, um andere auszuprobieren, oder auch, welche Verhaltensweisen ich ablegen sollte, um mir neue aufzuspannen. Naja, jedenfalls hab ichdas ukranische Himbeerwackelpuddingpulver auf das kurze Kassenband gelegt, meine knapp zwei Euro bezahlt und mich gefreut, das rosa Zeug irgendwann mal für meinen Sohn zuzubereiten.

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Die Zubereitung von КцсеЛв gestaltet sich als unkompliziert, der Zucker ist – ganz anders als bei seinem doitschen Anverwandten – im Pulver enthalten. Nach dem Aufkochen des im Wasser aufgelösten Pulvers entsteht eine visköse Masse. Statt klarer Gelatine beinhaltet das Produkt Stärke – anders kann ich mir die eher milchig-rosa Optik nicht erklären. Die Süße erinnert stark an Puderzucker, die Himbeernote ist kaum herauszuschmecken. Meinem Sohn schmeckt es leider nicht, ich mische mir ein paar Löffel in den Naturjoghurt.

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Freitag, 07.06.2024, Der Dortmunder Schriftsteller Erich Grisar, Teil 3, Cäsar 9

Erich Grisars Roman Cäsar 9 wurde posthum im Auftrag des Fritz-Hüser-Instituts editiert und 2015 veröffentlicht.
Cäsar 9 bezeichnet das Planquadrat (C 9) auf der vom britischen Bomber Command angefertigten Karte zur Vorbereitung der Luftangriffe auf das Ruhrgebiet während des Zweiten Weltkriegs. Im Planquadrat C 9 lag die Stadt Dortmund.

Fritz Hüser schrieb 1968: „Der Roman von der Zerstörung der Stadt Dortmund im letzten Weltkrieg enthält grandiose und dokumentarische Szenen – er ist leider immer noch ungedruckt!“ Eine Veröffentlichung des Manuskripts, das der Autor 1948 abschloss, gestaltete sich als schwierig. Denn die erzählerische Beschäftigung mit der Zerstörung Dortmunds, den Verbrechen an Kriegsgefangenen sowie die Auseinandersetzung mit den Hungers- und Wohnnöten während (…) des Krieges mag im Kontext der Bemühungen um den Wiederaufbau höchst unwillkommen gewesen sein. Bei zeitnaher Publikation hätte der Roman „zahlreiche neuralglische Punkte der Nachkriegsgesellschaft auf einmal berührt“ (Maxwill 2016, 332). Maxwill versteht den Roman nicht als Klage über die Bombenangriffe, dafür sei sich der Autor allzu deutlich über die ideologischen Katastrophen bewusst. Vielmehr stelle der Roman „Fragen von Vereinnahmung und Verblendung (…): Wie rasch lässt sich der Einzelne korrumpieren? (…) Und wie lässt sich innerhalb eines totalitären Systems überhaupt noch Distanz wahren und Widerstand ausüben, ohne sich selbst sogleich in Gefahr zu begeben?“ (Ebd., S. 340)

Erich Grisar – Cäsar 9, S. 340, klick hier zum anhören


02.06.2024, Der Dortmunder Schriftsteller Erich Grisar, Teil 2, Die Drehscheibe

Zum Ende dieser Woche ein weiterer kurzer Text mit dem Titel „Die Drehscheibe“ aus Erich Grisars Roman Ruhrstadt. In diesem Teil beschreibt Grisar die Grenzziehung innerhalb der Stadt (Nord/Süd) inklusive deren Bewohner, also die Vorstellungen von zwei voneinander abgegrenzten Wohnarealen, eine zweifelsohne zeitlose und die Deindustrialisierung wirkende Allegorie von Städten, die mir seit meiner Ankunft in Dortmund, wenn ich näher drüber nachdenke, jedes Mal aufs Neue unbegreiflich erscheint.

Erich Grisar – Ruhrstadt, Die Drehscheibe, klick hier


28.05.2024, Der Dortmunder Schriftsteller Erich Grisar, Teil 1, Arbeit im Hüttenwerk Thomas

Der Dortmunder Schriftsteller Erich Grisar (1898–1955) war Lyriker, Romanautor, Journalist und Reiseschriftsteller. Sein Gesamtwerk umfasst den Arbeiterdichter der 1920er-Jahre ebenso wie den anekdotischen Humoristen der Nachkriegszeit.

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Sein Roman Ruhrstadt „hätte sein maßgeblicher Roman zum Ruhrgebiet, genauer: zum Leben und Arbeiten in Dortmund werden können“, schreibt Arnold Maxwill im Nachwort zum Roman und konstatiert für die frühen 1930er Jahre, also die Zeit, in der Ruhrstadt entstand, „eine enorm hohe Dichte literarischer und journalistischer Beschäftigungen mit dem Ruhrgebiet […]: als Region, als Landschaft, als Lebenswelt und Konglomerat von Industrie, Arbeiterschaft und Städtewachstum.“ (ebd., 268) Glaube man den Textspuren im Nachlass, „tippte [Grisar[ den Roman direkt in die Schreibmaschine und beendete den Text Ende Juli 1931 nach nur zweieinhalb Monaten Schreibarbeit.“ Die schnelle Romanproduktion schließt Maxwill aus Grisars „enorme[r] Vertrautheit mit dem Sujet (ebd, 268).“ Die erste der insgesamt drei Grisar-Kurzlesungen stammt aus dem ersten Kapitel aus Ruhrstadt, in dem der Autor präzise die Arbeit im Hüttenwerk beschreibt. Ich empfand den Text bei der ersten Lektüre stark ästhetisierend in Bezug auf die Arbeitsprozesse; die Vorgängen im Hüttenwerk werden durch die Sprache poetisch aufgeladen. Dieser Eindruck spiegelt Arnold Maxwill in seinem Nachwort wider, in welchem er schreibt:

„Dass der Romancier Grisar allerdings durchaus zum Pathos neigt, sobald es um das Thema 'Arbeit' geht, soll nicht verschwiegen werden. 'Arbeit' erfährt in Ruhrstadt bei der Beschreibung der Tätigkeiten im Werk durchgängig eine Aufwertung, die aufgrund ihrer metaphorischen Durchdringung teils schon eine gewisse Sakralisierung beinhaltet.“ (Ebd., S. 271)

Mit Bezug auf Grisars Fotografien beleuchtet Maxwill das Verhältnis des Autors zur Arbeitswelt so:

„Grisars Fotografien zum Thema 'Arbeit' und 'Industrie' überzeugen heute rascher als es seine Erzählungen und Romane tun, die in den späten 1920er-Jahren von der Überzeugung geprägt waren, dem Arbeiter müsse qua Dichtung die 'Anerkennung des vollen Wertes seiner Arbeit' durch die Gesellschaft ermöglicht werden.“ (Ebd.)

Neben dem Pathos, der Grisars Beschreibungen durchdringt, hat der Text freilich auch dokumentarischen Charakter bei der Veraanschaulichung der Arbeitsabfläufe im Hüttenwerk Thomas.

Erich Grisar – Ruhrstadt, Hüttenwerk Thomas, klick hier


Sonntag, 26.05.2024, Südbad, 11.55 Uhr
Das offizielle Ende der Woche wird eingeläutet, Rausschmeißer im Südbad, leider vollkommen übertönt durch Föhnrauschen und Schließfachgeklapper, werde mich um eine bessere Aufnahme kümmern, an einem Abend nächste Woche :)

Rausschmeißer Südbad, Sonntag, 11.55 Uhr, klick hier zum Hören:

Lustig war auch das kleine Mädchen in den Damenduschen, das unterm warmen Duschstrahl superlaut vor sich hinsummte, als sei sie eigentlich nur zum Duschen ins Schwimmbad gekommen.


26.05.2024 – Rotstift in HÖRDE. Über Träume, Briefumschläge, Realschulen, TEDi und Fremdsprachen
Wenn ich ausschlafe, also so bis 7.30 Uhr, kann es mitunter passieren, dass ich mich an all die bösen Alpträume erinnere, die mich kurz vor dem Aufwachen überkommen. Vorletzte Woche träumte ich, ich hätte meinen eigenen Roman aus dem Regal einer öffentlichen Bibliothek gezogen, das Buch aufgeschlagen und auf jeder Seite hätten am Rand dicht an dicht handschriftliche Anmerkungen, Kommentare und Verbesserungsvorschläge gestanden, die ein/e Nutzer:in der Bibliothek zwanghaft hineingekritzelt haben musste. Ein Traum aus der Kategorie „Nackträume“, die sich auf Scham und apriorische Schreib- und Publikationsängste beziehen. Erleichtert wurde ich mir nach dem ersten Kaffee gewahr, dass es unter der hier vorliegenden URL weder eine Kommentar- noch eine Mailantwort-Funktion gibt. Puh, nochmal Glück gehabt! :)
Um die Kommunikation zur Außenwelt aufrechtzuerhalten, benötige ich einen Kugelschreiber, Papier und Umschläge für die vielen Briefe, die ich in der Woche in der Postfiliale in der Kreuzstraße aufgebe. Dass ich keine Briefumschläge mehr habe, fiel mir just in dem Moment ein, als ich letztens mit dem Fahrrad die Marie-Reinders-Realschule passiere. Vom Schulhof der konventioneller Pausenlärm, vor dem Schulgebäude sitzen zwei Mädchen, die Schulaufgaben durchgehen.

Marie-Reinders-Realschule, klick hier zum Hören:

Und ein paar Meter weiter sah ich schon die nächste von gefühlt 100 Milliarden TEDi-Filialen in dieser Stadt (in Wirklichkeit sind es nur 200 im gesamten Ruhrgebiet, die TEDi-Zentrale liegt in Asseln, die erste Filiale wurde in Hagen eröffnet), gleich gegenüber des Hörder Bahnhofs. Ich möchte jetzt wirklich keine Werbung für diesen Laden machen, hab auch schon einmal krasse Kopfschmerzen da gekriegt, aber Schreibwarenläden sind rar gesät, da übernimmt halt TEDi das Kommando. Jedenfalls betrete ich den Laden, greife in einem der engen Gänge nach den Umschlägen und während ich zur Kasse laufe, ziehe ich schon den Euro aus dem Portemonnaie. Vor mir in der Schlange eine Russin mit zwei Kindern, verstehe deren spannende Unterhaltung nicht, weil ich nur ein halbes Jahr Russisch in der elften Klasse hatte. (Ich weiß aber, dass Butterbrot Butterbrot heißt und Banane Banan.

TEDi Hörde, klick hier zum Hören:

Ein paar Tage später telefoniere ich mit meinem Bruder, er hat Slawistik studiert und gibt mir die ungefähre Übersetzung des Mutter-Kind-Dialogs wieder. Da wir danach noch über die bald anstehende Einschulung seiner Tochter sprechen, vergesse ich den präzisen Ablauf des spannenden Dialogs, der in etwa folgendermaßen zu übersetzen ist:
Mutter (zu Kindern): Ihr sollt hier bleiben!
Kind: Guck mal, der Laden heißt Tedi.

:) Vielleicht sollte ich nicht überall mein Aufnahmegerät draufhalten :) Aber insgesamt finde ich Audioaufnahmen von Kassenpiepen im Kontext der gegenwärtigen Zeitgeschichte nicht irrelevant, in zehn Jahren klingen Kassen womöglich ganz anders.


Samstag, 25.05.2024 – Dortmund gegen Rechts-Demo
Leider muss ich gestehen, dass ich nicht allzu gerne auf Demos gehe. Dass man für eine Sache einsteht, ist gut und richtig!! Aber sobald es eventmäßig und festivalesk wird, wird mir ganz bang ums Herz und ich frage mich, was das soll. Auch bin ich kein großer Fan von Flaggen. Wieauchimmer. Ich möchte mich nicht weiter erklären müssen, heute jedoch gab ich mir einen Tritt in den Hintern, Impulsgeber war sicher auch der Gedanke an mein Aufnahmegerät, das tatsächlich so einige schöne Lieder auf der Veranstaltung einfangen konnte und natürlich auch dieser allgemeinen rechten Kackscheiße, die uns alle gerade umgibt, doch auch etwas antgegenzusetzen. Palitücher habe ich auf der Demo nicht gesehen, was ich sehr angenehm fand, während in Berlin gerade Unis besetzt werden.
Und während der Emorocker aus dem benachbarten Hinterhaus bei geöffnetem Fenster seine Softrockschlager hört und an den gefühligsten Stellen dazu mitplärrt (übrigens dieselben Songs, die er schon vorletzten Samstag aus seiner Wohnung ließ, er scheint so eine Playlist zu haben, es ist nicht gänzlich schlecht, er hört auch so Fleetwood Mac Hippie Kram, is sicher 'n weicher Typ, kenne ihn nicht, hab ihn auch noch nicht gesehen), übertrage ich die Soundfiles von meinem Aufnahmegerät auf meinen Rechner und bringe sie ein wenig in Ordnung, so dass jeder etwas davon hat. :)
Ich habe heute auch ein paar Fotos von den Musikern gemacht, aber die lasse ich diesmal einfach mal weg, um meinem klangfokussierten Konzept treu zu bleiben und auch weil ich Fotos von Demos auch nur für historische Zwecke dienlich finde und auch damit sich die Leserschaft nicht einfach durch die Bilder scrollt.
Die Reden, die auf dem Platz am Adlerturm gehalten wurden, habe ich nicht mitgezeichnet. Ich starte dort, wo die Menge aufgerufen wird, sich in einem geschlossenen Zug Richtung Westenhellweg zu machen. Am Ende dieser beliebten Einkaufsstraße soll dann die Menschenkette gebildet werden. Nachdem der DJ auf dem Podium den Gassenhauer "schrei nach liebe" angeschmissen hat, bewegt sich die Masse also Richtung Einkaufsstraße.
Der Zug schreitet so langsam voran, dass man die ganze Zeit aufpassen muss, nicht irgendwem auf den Fuß zu treten. Als es mir doch einmal passiert, ist mir das so unangenehm und ich entschuldige mich bei dem älteren Herrn, der das auch eher lustig findet, bei so vielen Menschen passiert sowas ja schonmal, meint er.
Eine aus drei Männern bestehende Bläsertruppe, führt den Zug an, trötet ununterbrochen, fast festlich, als wir in den Westenhellweg einbiegen verstärken sich die friedlichen Karnevalsvibes, die nur selten durch kurze Sprechchöre mit Slogans wie „Ganz Dortmund hasst die AfD“ oder „Alle zusammen gegen den Faschismus“ übertönt werden. An einzelnen Stationen des Wegs stehen verschiedene Gruppen von Sängern und Instrumentalisten, die den friedlichen Zug mit ganz individuellen Darbietungen musikalisch anreichern, so an der Stefanstraße eine Sängerin, ein Chor mit dem Poster „Sing bunt statt braun“ in der Nähe der Reinoldikirche mit „Bella Ciao“ oder, kurze Zeit später ein peaciger Chor mit „sag mir, wo die Blumen sind“ oder ein Steeldrum-Saxophon-Duo vor C&A. Ein sehr vielfältiges Programm und man den Musikern merkt man die Freude am Engagement an. Hier die Soundfiles, darunter geht der Text weiter.

Nach Kundgebung am Adlerturm, klick hier zum Hören:

Bläsertrio, Bella Ciao, klick hier zum Hören:

Chor, Bella Ciao, klick hier zum Hören:

Alle zusammen gegen den Faschismus, klick hier zum Hören:

Ganz Dortmund hasst die AfD, klick hier zum Hören:
Sängerin, Stefanstraße, klick hier zum Hören:

Saxofon und Steeldrum vor C&A, klick hier zum Hören:

Sag mir, wo die Männer sind, klick hier zum Hören:

Unter Sonnenschirmen an Bistrotischen betreiben einige politische Parteien Wahlwerbung, muss von mir aus nicht sein, weiß ja schon, was ich wähle, aber finde sowas immer gut wegen der Kugelschreiber, die man da bekommt, der Aufdruck lässt sich ja notfalls immer mit einer scharfen Fingernagelkante abkratzen. Ich hab mal einen orangefarbenen von der CDU in meinem Mäppchen gefunden und mich immer gefragt, wie der da wohl hingekommen ist, war mir in der Stabi immer richtig peinlich und habe gehofft, dass sich niemand einen Kuli bei mir ausborgen möchte. Mein Sohn hat von Den Linken in Friedrichshain mal ein Magnum-Eis bekommen, was er auch sehr nett fand. Einige Vertreter DER PARTEI laufen hier auf dem Westenhellweg wie lebendige Litfasssäulen in einer TV-Show mit lustigen Plakaten rum.
Gemächlich schreitet der Zug voran und erreicht keine zehn Minuten später das Ende des Westenhellwegs. Ich sehe noch, wie der Oberbürgermeister an die Spitze der Demo eilt, um sich für Pressefotos mit hinter das Banner zu stellen, stehe eine Weile mit in der Kette und löse mich dann aus der Menge; mehr als 160 Minuten halte ich es leider nicht in lautem Gewimmel aus.


24.05.2024
Glücksorte Dortmund: Der Südwestfriedhof
Jeder Friedhof klingt wie die an ihn angrenzende Straße. Im Fall des Südwestfriedhofs ist es die A40, die sich im Süden als Gürtel um die inneren Bezirke legt und den historischen Friedhof und seine Besucher mit urbanem Meeresrauschen beschallt. Die Besucher des Südwestfriedhofs geben sich einfachen Freizeitbeschäftigungen hin. Eine Frau geht mit ihrem Hund an der Leine spazieren. Um den dicken Stamm einer Linde winden sich zwei Eichhörnchen beim Fangenspielen. In der Ferne höre ich einen Jungen Fußball spielen, kurz blitzt ein gelber Fußball zwischen zwei Gräbsteinen hervor. Ein junges Pärchen sitzt via-à-vis der Kriegsgräberanlage und trinkt Radler, die Sonne geht knapp unter, das letzte Licht legt sich wie ein dunkelgelber Filter über die ordentlich aufgereihten alten Grabsteine. Auf dem Denkmal für die 523 Kriegsopfer des Ersten Weltkriegs hat jemand eine Bierflasche abgestellt, dahinter auf einer Bank wird einvernehmlich gekifft, ich rieche es bis hier her, das Aroma der Marihuanastängel vermengt sich synästhetisch mit dem Autobahnrauschen.
Ich hatte es schon einmal in meinem Tampere Blog erwähnt; Friedhöfe sind die einzig wahren historischen Zentren einer Stadt. Schön auch, dass es hier kein WLAn gibt, da bleibt man mir seinen eigenen Gedanken so schön allein :)

Glücksort Südwestfriedhof, klick hier zum Hören:
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Auf dem Südwestfriedhof ist außerdem der Dortmunder Autor und Fotograf Erich Grisar begraben, dessen unveröffentlichtes Werk sich das Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in den letzten Jahren widmete. Am Mittwoch war ich dort, um mir zwei Romane von Grisar anzuschauen, aus denen ich auf dieser kleinen Stadtbeschreiberinnen-Website nächste Woche lesen und schreiben werde.


Lidl, Tremoniastraße
Ein windiger heißer Wochentag im Mai. Eine Frau rollt einen Einkaufswagen über die Tremoniastraße Richtung Lidl. Im Wagen sitzen drei kleine Jungen. Offenbar hat sie ihren Einkauf zuvor nach Hause geschoben und bringt den Wagen nun zurück zum Discounter. Als sie den Parkplatz erreicht, tritt eine Kundin aus dem Laden, in ihrer Hand eine Doppelleine mit zwei kleinen Yorkshire Terriern.
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Tremonia Lidl, klick zum Anhören:


22.05.2024
F während eines Telefonats: „Chrizzi, vergiss nicht den Jazz! Dortmund ist Jazzstadt! Vergiss den Jazz nicht, Chrizzi!“
C: „Ja, ich weiß, war auch schon im Fritz Henssler Haus, muss noch zu der free jazz session am dritten Donnerstag. Aber ich dachte auch: creative industries Techno. Phoenix-Techno, Tresor.West, ne?“
X, Taranta Babu, 23:20 Uhr: „Du hättest dem Johnny sagen sollen, dass du Stadtbeschreiberin bist! Dein ethnografischer Blick... etc pp.“
Y: „Fußball, Chrizzi, vergiss den Fußball in der Stadt nicht!“
Z gegen 2:20 Uhr: „Deindustrialisierte Städte werden zu IT-Städten, oder?“
C: „Vorhölle Thier-Galerie.“

Leute, ich bleibe dran, ich habe alles auf dem Schirm, sammel wie ein Berserker, habe jedoch auch meine eigene Perspektive zu wahren. Deshalb zwischendurch ein bisschen easy listening (siehe Tremonia-Lidl). :)


Ein Samstag Abend. Signal Iduna Park [11.05.2024]
Selbst Fußballstadien sind in Dortmund Kraftwerke, selbst an spielfreien Tagen.
Ein lauer Samstagabend, Fußballfans in zivil bummeln aus dem Kreuzviertel gen Süden über die BVB-Brücke, überqueren die B1, um sich in den Biergärten des Stadions einzufinden. Vor den Biergärten Mauern, die den Verkehrslärm von der Strobelallee filtert. Zwei kleine Jungs in gelben Trikots kicken einen gelben Ball gegen die Mauer. Auf den Trikots steht „Reus“. Achso, Reus wird gar nicht mit „oi“ geschrieben, denke ich. Im „Biergarten im Stadion Rote Erde“ ist viel los, Biergläser werden angestoßen, mit Geschirr geklimpert, englische Touristen unterhalten sich über Fußball. Eine Anlage beschallt die Biertische mit „Don't know much about history.“
Auf dem Weg zum anderen Biergarten („Strobels“) entlang der Mauer werde ich von zwei Typen angequatscht, die sich zum Biertrinken mit Kioskbier verabredet haben.
„'tschuldigung, wissen Sie, wo Marco Reus ist?“, fragt mich der eine.
„?“, ich zucke mit den Schultern und schaue mitfühlend.
„Ich dachte, Sie wissen vielleicht, wo der wohnt...“
„Ich wusste bis vor 'ner Woche nicht mal, wer das ist.“
„Ist ne Legende hier“, sagt der eine.
„Ja, ich weiß, mittlerweile.“
Ich setze meinen Weg fort Richtung Stadion und BVB-Fanwelten (einem großen BVB-Goodie-Laden, der abends nicht geöffnet hat). An einer riesengroßen LED-Wand werden die spektakulärsten Fotos der letzten beiden Spiele Dortmunds gegen Paris gezeigt. Zwei Fans stehen davor und machen mit einem Selfiestick Fotos von sich und der Wand und freuen sich, dass sie sich mit einem Bild von Marco Reus eingefangen haben: Marco Reus, vor Jubel schreiend und mit prallen Schläfenadern, so prall, dass sie gleich zu platzen drohen.
Ich nähere mich dem Stadion, still und starr steht es da. Am Gitter eines Eingangstors die Stadionregeln. Aus dem Gebäude dahinter, dem leeren Stadion, kommt lautes Rauschen, wie aus einem Kraftwerk. Selbst im Ruhezustand scheint es zu arbeiten, irgendeine Energie bereitzustellen, die Fans in den Biergärten zu segnen. Selbst an spielfreien Tagen ist das Stadion ein Kraftstein für die Fans, eine Anlage, an der man sich festhalten kann, während der Nachwehen, der Hoffnung, der Spannung und Vorfreude.
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Kraftstein

Im Biergarten Strobels ist etwas weniger los. Ich überquere die Strobelalle, laufe über eine gepflegte Gartenanlage Richtung Messehallen. Ein Pulk Menschen wartet vor der Westfalenhalle, es werden immer mehr. Was denn heute hier stattfindet, frage ich eine Frau, die in Begleitung vor einer dieser schönen Blumenbeete steht, und gerade ihre Sonnenbrille auf der Stirn absetzt. Marius Müller-Westernhagen, antwortet sie. Ich erlaube mir keinen Kommentar, wünsche viel Spaß und laufe heim.
Signal Iduna Stadion – ein spielfreier Samstag, klick zum Anhören:


Dienstag, 14.05.2024 – Dorstfeld - teaser
Romance in Dorstfeld
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N8i :)


Ein Montag - Huckarde
Nachdem ich mir  das schönste Badezimmer Dortmunds angeschaut habe, fahre ich mit dem Rad nach Huckarde, um mir einen Kaffee zu kaufen. Neben dem Friedhof St. Urbanus kehre ich in eine italienische Bistrocafépizzeria ein, die so gut wie alles anbietet. Nachdem ich einen Kaffee bestellt habe, werfe ich einen Blick auf die Speisekarte. Hm hm, BVB-Pizza gibt’s hier auch, hm hm, zu meiner Enttäuschung nicht mit gerösteten Bienchen, sondern mit allen gelben Zutaten, die die italienische Küche so hergibt.
BVB Pizza

Im Raum nebenan eine muntere Festgemeinde, alle in schwarz gekleidet, offenbar eine Trauergesellschaft, die heute morgen auf einer Beerdigung auf dem Friedhof nebenan war. Dabei fällt mir ein, dass wir nach dem letzten Begräbnis, auf dem ich war, auch in einer Pizzeria einkehrten. Riesenpizzas, die über die Tellerränder ragten, verdrängten für ein Paar Momente den Schmerz. Die Trauergesellschaft hier ist gerade beim Espresso angekommen und es wird schon wieder laut gelacht. Draußen hat ein Fahrtendienst geparkt, um Trauergäste abzuholen. Eine ältere Dame fährt mit Hilfe von Rollatoren zur Toilette und dann aus dem Restaurant, um sich mit dem Fahrer abzusprechen.



Freitag, 09.05.2024: Spaziergang durch den Westpark während Parkfest 2024
Ein heißer Frühlingsfreitag. Die Sonne knallt die Möllerstraße hinab. Wir suchen Schatten im Westpark, tiefe Dubbässe, Frauengesang: aus Boxen. Der DJ auf der Festivalbühne. Davor Schatten unter Bäumen und Bierbänke. An den Bierständen noch wenig los. BBQ. Ein Zelt mit 2nd Hand Kleidung, Jacken und 90er-Jahre Hemden, Klackern von Stahlbügeln an Kleiderstangen. Wir laufen den Parkweg entlang. Nähern uns der Bühne, Soundsystem wird immer lauter, Vögelgezwitscher konkurriert mit der Musik.
Rechts der Holzspielplatz, Kinder toben sich aus. Vier Tischtennisplatte, Bälle schmettern auf Steinplatten. Ein kleines Kinderkarussell mit volkstümlichem Bibabutzemann-Schlager, Mütter gröhlen. In der Ferne thront die Hüpfburg. Unterhaltungen auf deutsch, Unterhaltungen auf türkisch, Unterhaltungen auf russisch, gebrochen deutsch und französisch, türkische Männer verkaufen Tee, Frauen Lahmacun, Köfte und Dolma. Der Bass der Festivalbühne stampft sich durch den Park, Menschen sitzen auf Bänken unter Bäumen, hören Musik aus Lautsprechern ihrer Smartphones, französischer HipHop. Der Dub-Bass von der Festivalbühne entschwindet in der Ferne, Vogelgezwitscher wieder zu vernehmen. Verlassen des Parks durch den Ausgang Müllerstraße, Höhe baufälliger Rewe.
Spaziergang durch den Westpark während Parkfest, klick play:




Donnerstag, 08.05.2024
Ich habe in der html-Datei ein paar "target-blanks" eingefügt, so dass sich die links in neuen tabs öffnen, was etwas leserfreundlicher ist. :)
Habe Besuch und war ein zweites Mal auf dem Südwestfriedhof. Kurzeintrag darüber demnächst. Mir wurde erzählt, dass dort ein Autor (ich meine nicht Huelsenbeck!) begraben liegt, nur konnte man mir den genauen Namen nicht nennen. Wer es weiß, darf mir gern mailen, ich würde dann beizeiten ein paar Texte von ihm heraussuchen und teilen.
Schönes Feiertagswochenende an alle!


Mittwoch, 08.05.2024, I
Während des Spiels St. Germain gegen Borussia, das ich über mein Notebook gehört habe, verkabelte ich meine LOM-Sensoren mit dem Aufnahmegerät. LOM-Sensoren sind in der Lage, elektromagnetische Wellen in Klang zu übersetzen, es sind also kleine spezielle Mikrofone, die sich bloß auf elektromagnetische Felder konzentrieren, und die akustischen Phänomene, die das menschliche Ohr wahrnimmt, akustisch nicht verarbeiten. Angeschlossen an ein Aufnahmegerät mit output, an die man zB Kopfhörer anschließt, kann man die durch die Sensoren erfassten Signale dann hören. In Spielminute 80 machte ich dann also eine Audioaufnahme von meinem Notebook. Die Aufnahme der elektroakusitischen Wellen des Notebooks während des Fußballspiels unterscheidet sich natürlich merklich von den Aufnahmen, die ich machte, als ich auf meinem Notebook ein .pdf las. Muss mal schauen, wie es beim Finalspiel klingt oder wenn ich das Internet ganz ausschalte.
Unten kann man die Audioaufnahme hören, darunter noch ein Bild von meiner Hand mit den Sensoren vor dem Laptop. Leider etwas verwackelt; eine sehr nette Bekannte aus Dortmund, die ich letztens kurz in Berlin sah, kommentierte schon nach Ansicht des Fotos, sie hätte auf den ersten Blick gedacht, PAR würde gegen DDR spielen. :) Dies erinnerte mich daran, wie ich auf einer Residenz mit belarussischen Freunden in Graz während der WM beim einem Spiel mit Belgien (BEL) dachte, Belarus sei am Ball. Als Amateurzuschauerin der WM darf man sich schonmal den Spaß erlauben, ganze Nationen auszuwechseln.

Lom-Aufnahme St. Germain Paris gegen Borussia Dortmund, klick play:

Hand
Aufnahmen mit den LOM-Sensoren

Der Kommentator des Spiels war wie erwartet verlässlich onkelig. In der Halbzeit gute Analyse-Laberperformance der Profis inkl. einer weiblichen Vertreterin des Fußballs, sie leider mit defektem Mikro. Nach dem Spiel und dem Sieg der Borussen hörte ich draußen noch zwei kleine Chinaböller, vermutlich von einem Fan gezündet, es klang aber auch eher lustlos, wie das allerletzte Böllern in der Silvester-Afterhour eines zweiten Januars.


Dienstag, 07.05.2024 - Über Fußball, Kapitel I
Ah, in ein paar Stunden ist es soweit, das Halbfinalspiel Borussia Dortmund gegen Paris Saint Germain findet heute Abend statt, nicht dass es mich wirklich interessiert, aber ich habe mir schon mal ein blaues T-Shirt rausgelegt und habe vor, mir gleich noch einen edlen Château Haut-Brion, Jahrgang 2020, zu kaufen, bei Edeka, wo es diese große Auswahl an BVB-Fanartikeln und eine kleine Abteilung an Haushaltswaren gibt, und ich mich gestern gefragt habe, weshalb die hier noch keine BVB-Knoblauchpressen im Sortiment haben.
Gern erzähle ich die Geschichte über den Stadionbesuch für ein Spiel von Turbine, dem Frauenfußballverein Potsdams, auf dem ich mit meinem Sohn (damals 4 Jahre alt) und meinem Neffen (Gladbachfan und mittlerweile knallharter Jungschieri) war. Mein Sohn fragte nach etwa zwanzig Minuten Spielzeit, wann denn die Männer spielen. Er fragte nicht, wann denn endlich die Männer spielen, er blieb da relativ neutral. Aber er hielt das Spiel von Turbine gegen die andere Frauenfußballmannschaft eben bloß für so etwas wie die Vorband des eigentlichen Programms. Die kleine Geschichte sagt so viel über diesen Sport aus. Eigentlich bin ich an so ziemlich allem interessiert, außer halt an Fußball. Das stimmt nicht ganz, das Entstehen der Fangemeinde und die korrupten Verquickungen dieser Ballsport sind natürlich hochspannend.
Entzückend finde ich es natürlich auch, wenn hochdurchgeistigte Akademikerfreunde von ihren Bundesliga-Samstagen auf ihren Sofas bei Chips und Cola erzählen, nein, eigentlich erzählen sie davon nicht wirklich, man kriegt nur mit, dass das halt irgendwie regelmäßig bei denen, oft sind sie dabei allein, stattfindet. Faszinierend natürlich auch, dass sich die Liebe zu Fußball durch so ziemlich alle Klassen und Generationen zieht. Wenn mir Leute berichten, wie sie zum Fußball kamen und Fan wurden, kann es schonmal unangenehm gefühlig und nostalgisch werden, beschwörend erzählen sie dann, welches ihr erstes Spiel im Stadion war, welche Mannschaft sie damals weshalb auserkorten, welchen Vereinen Brüder und Väter nachhingen. Für eine Freundin von mir, die mich einmal auf ein FC-Köln-Spiel mitnahm und mich mit all dem Hintergrundwissen zu den Geißböcken aus dem Kölner Zoo versorgte, war ihre Fußballliebe eng mit ihrer Beziehung zu ihrem Vater verknüpft, der sie an das Fantum heranführte. Um es lapidar auszudrücken, Fußball ist mit tiefen in irgendeiner Vergangenheit verankerten Emotionen verbunden. Das ist ok. Was mir eher Angst bereitet, ist dieses Kollektive, das Größenwahnsinnige, die Massenbegeisterung, die Dopaminausschüttung, oder was immer da im Körper passiert. Konzentrierte Spielbeobachtung und Mitfiebern finde ich übrigens iO, vielleicht ist es wie wie das Lesen eines spannenden Buchs. Doch wenn zu übertrieben gebannt geschaut und in den Bildschirm gebrüllt wird, als gehe es um Leben und Tod, verziehe ich mich. Irgendwie fehlt da der Bruch, die Ironie, die Meta-Ebene. Ich verstünde es einfach nicht, mag man schimpfen. Aber doch! Ich verstehe es, den Anflug der Massenbegeisterung, ich habe ihn doch selbst sicher mal gespürt. Aber er ist mir zu überwältigend, unangenehem, als würde man bei einem Autounfall zuschauen. Es hat nichts mit mir zu tun. Dieses Gefühl, das mir von Außen aufgedrückt wird. In den EM- und WM-Saisons kommt man nicht drumrum, es mitzumachen, vielleicht wie ein Nichtraucher, der sich einer Raucherkneipe zwar kontemplativ einräuchern lässt, aber nicht richtig inhaliert. Ab wann macht man richtig mit, wann gehört man überhaupt dazu?
Klar interessiert es mich, was in beiden Fällen (Gewinn oder Verlust der Borussen) hier in der Stadt (auch klanglich) so geschieht. Das Amazon Prime Probeabo, das mir das ein oder andere nüchterne Fußballstündchen bescheren wird, habe ich selbstredend nur für die Zeit in Dortmund abgeschlossen. Stadiongeräuschkulissen von gestreamten Spielen, die aus den Notebookboxen kommen, finde ich komischer Weise beruhigend. Man kann so schön dabei lesen oder schreiben. Ich ziehe mein blaues Shirt über und mache mich mal auf den Weg ins Südbad und dann zu Edeka.


Dienstag, 07.05.2024: Künstliche Songs über Dortmund

Als sich ChatGPT und andere kreative KI-Maschinen sich vor ein paar Jahren auf den Horizontlinien der Monitore abzeichneten, führte das zu einem allgemeinen Hype, aber auch zu der Angst, eine artifizielle Macht würde den Menschen auch bald seiner künstlerischen Fähigkeiten enthaupten. Unter Autor:innen der Neid vor dem Tempo der KI beim Schreiben eines Romans. So teilte ein Freund bei freakbook einen Artikel aus dem Guardian, der – after AI concerns - die Begrenzung der Anzahl der täglichen Veröffentlichungen von Büchern auf drei Romane behandelte. Ich fand es so lustig und absurd, hatte ich doch etwa drei Jahre an meinem zweiten Roman gesessen und suchte schon seit Monaten nach einem freundlichen Verlag.

Was waren das wohl für Texte, die mittels KI entstanden? Medien- und Literaturwissenschaftler gaben sich fortan dem Experiment hin, genau dieser Frage nachzugehen, teils wissenschaftlich, teils essayistisch. Vermutlich wurden auch ganze Lehrstühle auf den Plan gerufen, DFG-Anträge zu schreiben, die den Nutzen und Nachteil von KIs und die Frage nach ihrer eigentlichen Intelligenz aufzuklären – selbstverständlich mittels empirischer Methoden. Vorabergebnisse wurden stolz im Internet präsentiert und unterschieden sich kaum von jenen Ergebnissen, welche die außeruniversitäre Bevölkerung längst selbst schon in ihren autoethnografischen Alltagserfahrungen mit der KI erbracht hatte.
Auch ich verbrachte einen Abend lang mit ChatGPT, um mich mit ihr über Martin Kippenberger (er ist übrigens in Dortmund geboren! ich mag seine Arbeiten sehr!) zu unterhalten. Eigentlich ging es mir, wie vielen anderen, nur darum, herauszufinden, wie ChatGPT so tickt. Offenbar hatte sie genügend Infos über Kippenberger eingeholt, um mir bereitwillig jede trickreiche Frage zu beantworten. Welche Meinung sie denn dazu hätte, dass Kippenberger oft Frauenfeindlichkeit nachgesagt wird, fragte ich, und sie konnte – sogar inkl. einer kurzen künstlerischen Rezeption – erörtern, dass es sich natürlich um eine negative Darstellung Kippenbergs handelt, die es dringlich aus dem Weg zu schaffen gilt. Eigentlich war mir ChatGPT von Anfang an sympathisch, doch erschien sie mir auch ein wenig schlicht. Als ich sie des Weiteren auf die Probe stellte und fragte, ob sie mir Hintergrundinformationen über den Musiker Istari Lasterfahrer (ein Hamburger Breakcore Produzent mit bürgerlichem Namen Felix Raeithel) liefern könne, erzählte sie mir, bei jenem Künstler handele sich um Jens Brinkmann, einen Bremer House-Produzenten. Ich habe laut gelacht, scheinbar war sie nicht mal in der Lage, Informationen aus alten MySpace oder Wiki-Seiten herauszusaugen.
In Bezug auf ihre Kippenberger-Auseinandersetzung machte ich mir oft Gedanken darüber, ob sie vielleicht einfach nicht schlecht über Personen reden wollte, denn - so erklärte mir ein Freund: ChatGPT bleibt von Anfang bis Ende höflich, egal, was du schreibst. Wenn man zwei ChatGPTs sich miteinander unterhalten lässt und sie beauftragt, miteinander in ein intimeres tête-à-tête überzugehen, bliebe es grundsätzlich beim Plaudersmalltalk, wobei ich das wiederum recht nett und auch realistisch finde.
Höflichkeit ist ja erst einmal gut. Was mich wirklich ernüchtert sind „intelligente“ Wort- oder Satzvervollständigungsfunktionen auf dem Smartphone. Nur weil es mir vorgeschlagen wird, tippe ich ein „kein Problem“, oder ein „alles klar!“, obwohl ich das früher eher zu prompt für eine Antwort gefunden hätte. Plötzlich kommuniziere ich botmäßig wie alle anderen auch, individuelle Subtexte oder niedliche Rechtschreibfehler gehen verloren, ich spüre das sprachliche Gleichmaching, dem jeder Charme abhanden kommt, und ärgere mich nach wie vor über fehlende Kommata.:) Oft nehme ich Wort- und Formulierungsvorschläge im Smartphone einfach so an, obwohl sich solche Floskeln für mich immer noch so gestresst anfühlen, fix und für die schnelle Reaktion werden irgendwelche Wortbuttons gedrückt. Meine Beobachtung hat gezeigt, dass sich dieser abgebrochene Schreib- und Sprachstil bei manchen Leuten auch im analogen real-life-Verhalten und ihren Telefonstimmen widerspiegelt.

KI-Songs über Dortmund
Zurück zu Dortmund und seiner musikalischen Vertonung: Eine beträchtliche Attraktivität gewann das kreative (?) Vermögen der artifiziellen Intelligenzen, als ich mitbekam, dass man in Nullkommanichts ganze Songs komponieren lassen kann. Die KI textet (mit oder ohne vorgegeben Stichpunkten) ganze Strophen und einen zumeist tatsächlich ohrwurmmäßigen Refrain und erschafft dazu die passende musikalische Begleitung (mit oder ohne Genrewunsch).
Das Perfide an der gesamten Sache ist, dass man den Stimme, die für die Songs geschaffen werden, trotz ihrer Konservenhaftigkeit, eine brüchige Seelentiefe nicht absprechen kann.

Die Kreation eines Song über Dortmund mittels KI ist äußerst erkenntnisreich, vor allem in Bezug darauf, was die KI über Dortmund zu wissen scheint.
Mit meinem Wunsch einen Song über Dortmund zu komponieren, in dem auch das Thema "Literatur" behandelt wird, schuf Suno ein Lied mit dem Titel Graue Schatten, der nach Klick auf den Titel anzuhören ist und unten einer kurzen Interpretation unterzogen wird.

Songtext von Graue Schatten

1. Strophe
Industriestadt
Rauer Beton
Dortmunds Straßen
Ganz verzon'n
Einst war hier der Stahl zuhaus'
Heute nur noch grauer Graus

2. Strophe
Literatur und Poesie
In den Büchern
Fern der Alltagsflieh'
Doch der Fußball regiert hier laut
Das Spiel Das alles übertönt

Refrain
Graue Schatten in der Stadt
Vergangene Zeiten
Nicht mehr satt
Doch wir halten fest
Was uns bleibt
Ein Lied der Hoffnung
Das uns treibt

Textinterpretation: Einer tieferen Textinterpretation möchte ich mich nun nicht hingeben. Grauer Graus erscheint mir beim ersten Anhören etwas tautologisch und ich weiß auch nicht, was mit verzon`n gemeint ist. Deutlich zu vermerken ist dagegen in Strophe 2 der unterschwellige urbane Identitätskampf, der missglückte Versuch, Poesie und Literatur in den Alltag des durch den Fußball regierten Lärm der Stadt zu integrieren. Literatur und Poesie bleiben aus Sicht des lyrischen Ichs einfach in den Büchern.
Der Song hat mich jetzt nicht wirklich umgehauen, aber ich versuche es mal mit etwas Anderem. Ich habe in der Stadt ein paar Nashörner gesehen, die laut Wiki für die Bodenhaftung und Solidität der Einwohner steht, was ich – wenn auch ein wenig flach – doch als ganz putzig empfinde. In das Suchfeld für die Songkreation bei Suno tippe ich also folgendes: -> ein melodischer pop song über die deindustrialisierte stadt dortmund, über literatur und nashörner. Heraus kommt ein Lied mit dem Titel Schatten der Stadt.

Songtext von Schatten der Stadt

1. Strophe
Schutzlose Straßen
Stahl ohne Schimmer
Eine Stadt gezeichnet
Von Vergangenheit zerissen Dortmund
Einst ein Glanz in dunkler Nacht
Jetzt die Schatten
Die unsere Herzen packen

2. Strophe
Bücher und Worte
Mal flüsternd Mal schreiend
Literatur fließt durch die pulsierenden Adern
Wie Büffel auf der Savanne
Stark und stolz
Gedanken tanzen
Wie ein ungesehener Schau

Refrain
Schatten der Stadt
In unseren Seelen wohnend
Doch unsere Träume lassen sie langsam verblassen
Wir sind die Nashörner
Kämpfend und stark
Dortmund Die Stadt
Die in uns lebt laut und klar

Textinterpretation: Durch die Ergänzung des tierischen Gimmicks (Nashorn) ohne Zweifel metaphorisch verdichtet, auch das Träumen wird als fast kämpferische Kraft gegen die urbane Dunkelheit verstanden. Nicht so schlecht. Aber weiter geht’s, noch einen dritten Song, bitte!
Ich riskiere wieder weniger Stichpunkte und tippe in das Sunosuchfeld einfach folgendes:
-> ein fröhlicher song über dortmund
Heraus kommt ein Lied mit dem Titel Der Gelbe Himmel (Oh, jetzt hätte ich beinahe "gelbe Hummel" geschrieben).

Liedtext von Der Gelbe Himmel

1. Strophe
Ich schaue aus dem Fenster
Es ist Zeit zu geh'n
Mit meinem Herzen
voller Freude
Ich kann es kaum versteh'n
Die Sonne scheint so strahlend
Der Himmel ist so gelb
Es ist ein neuer Tag Ich fühl' mich wie ein Rebell

2. Strophe
Ich laufe durch die Straßen
Die Menschen strahlen mich an
Wir singen
Wir tanzen
Lautet unser großer Plan
Die Liebe zur Stadt
Sie liegt in der Luft
Wir sind eins mit Dortmund
Unsere Heimat
Unsere Kraft

Refrain
Oh Der gelbe Himmel über Dortmund
So wunderschön
Die Stadt der Leidenschaft
Wir lassen sie nie allein
Die Fans Die Vereine Wir sind wie ein Team

Textinterpretation Gelber Himmel?, frage ich mich, Saharasand? Offenbar bin ich noch naiver als die KI! Achso, die Fans, die Vereine, wir sind ein Team! Freundliche Menschen habe ich aber auch schon auf der Straße gesehen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Als ich dem OB an jenem Sonntag beim Meet and Greet von dem Songtitel berichte, erzählt er mir von der gelben Wand, also der Fantribüne im Stadion, die womöglich wie die Sonne leuchtet. Auch erzählt er mir von dem hellen Leuchten beim Abstich des Stahls im Stahlwerk, die die Umgebung auch nachts erhellte. Vielleicht bezieht sich die KI auch darauf.



Donnerstag, 02.05.2024 - Südbad – Innenstadt Süd
1957 erbaut, 1960 eröffnet, gilt das Südbad in der Ruhrallee als Baudenkmal Dortmunds. An den alten Fliesen an der Nordseite konnte ich mich bei den letzten beiden Besuchen gar nicht satt sehen.
Mein Aufnahmegerät habe ich im Schließfach gelassen, Fotoapparate darf man ja auch nicht mit in die Schwimmhalle nehmen.
Donnerstag Vormittag ist es richtig leer. Neben mir schwimmt eine schwarzhaarige Frau mit permanent Make-Up, auf der anderen Bahn ein älteres Paar: Sie mag so Ende achtzig sein und trägt eine silbergraue Speedo-Badekappe, er schaut etwas jünger aus und trägt eine blaue Kappe. Schwer auszumachen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, aber ganz offensichtlich haben sie sich hier im Becken zum Quatschen verabredet.
Während sie im Rückenstil durchs Wasser paddelt, schwimmt er ihr gegenüber an ihrem Fußende hinterher. Kopf und Schultern der beiden ragen aus dem Wasser. Wenn sie das Ende der Bahn erreicht haben, dreht sich dieser Zweipersonenschwimmapparat einmal um 180 Grad, und sie schwimmen in denselben Stil zurück, den Blickkontakt während des Gesprächs haltend, als würden sie sich mit Badekappen an einem Tisch gegenüber sitzen, der unter der Wasseroberfläche seine Bahnen zieht.
Wenn ich an ihnen vorbeischwimme, schnappe ich Teile ihrer Unterhaltung auf. Sie erzählt, dass sie in den 60er Jahren in Frankreich war, offenbar nicht mit ihrem Badefreund, vielleicht mit ihrem verstorbener Mann, vermute ich. Ihr Schwimmfreund hört angeregt zu. Es war in der Bretagne, erzählt sie, die Franzosen sprachen kein deutsch und sie kein Französisch, mit Händen, Füßen und viel Lachen hätte man sich verständigt. Auf Malle können alle deutsch, meint sie. Worauf ihr Badefreund sagt, da würden auch viele Spanier Urlaub machen, die kein deutsch könnten. Es sind keine weltbewegenden Gespräche, die die beiden da führen, aber in dieser Konstellation erinnern sie mich an einen schwimmenden Podcast, dem ich beim selber schwimmen gern zuhöre.

suedbad
Ein schwimmender Podcast, dem ich gern zuhöre

In den Duschen treffe ich auf eine Mittzwanzigerin, die mir erzählt, dass sie hier in Dortmund nur zu Besuch ist und eigentlich aus Köln kommt. Bin ich ursprünglich auch, sage ich und frage, wo in Köln sie denn genau lebe.
Naja, eigentlich nicht direkt Köln, gibt sie zu, komme aus Bergheim. :)
Später beim Haareföhnen treffe ich das Schwimmpodcast-Pärchen wieder. Gemeinsam verlassen sie das Bad. Ich ziehe mir im Automaten eine Fünferkarte.

Am Folgetag bin ich spät dran, erst am Nachmittag schaffe ich ins Bad. Das Becken ist voll, verschiedene Kinderkurse belagern die Bahnen. Ältere Kinder, die von ihren hitzigen Trainern beim Rückenschwimmen angebrüllt werden: Hintern hoch, schneller Paddeln, Körperspannung! Und Sechsjährige, die am Beckenrand sitzen, unsicher mit den Beinen strumpeln, die Füße knapp über der Wasseroberfläche, und sich nicht trauen, den halben Meter ins Wasser zu springen. Erst als ein freundlicher Trainer selbst ins Becken geht und ihnen anbietet, sie aufzufangen, wagen sie den Sprung. Ich habe fast vergessen, dass ich 2006 bei einer Jobsuche in Berlin selbst mal ein Vorstellungsgespräch als Schwimmtrainerin für Kleinkinder (Kinder, die kaum sprechen konnten!) hatte. Die ganze Sache hatte mich damals so beeindruckt, dass ich sie in einer einfach geschriebenen Email an Freunde festhielt, die man bei Klick auf Email nachlesen kann.