CHRIZZI IN TAMPERE IM OKTOBER 2020

Auf Einladung des Deutschen Kulturzentrums Tampere (DKT) in Kooperation mit dem Goethe Institut Finnland
arbeitet Chrizzi Heinen im Oktober 2020 als Stadtschreiberin in Tampere.
Texte, die sie während ihrer Residenz verfasst, können auf dieser Seite gelesen werden.
Der aktuellste Beitrag steht jeweils oben.

Die Texte werden zusätzlich auf den Seiten des DKT sowie den Seiten
des Goethe-Instituts Finnland veröffentlicht. Paljon iloa! CH

Die ersten beiden Wochen wird sie unter Quarantäne in einem Mökki in Haihara am Kaukajärvi verbringen.
Ganz unten findet sich eine Auflistung an Lesungen ab dem 14.10. in Finnland.

Fotos werden bei Bedarf auf Chrizzis Insta-Seite veröffentlicht.
Wenn ich nicht über Lonnie oder über Aleksis Kivi schreibe, liefere ich TAGESSCHAUM,
also eine Impulszusammenfassung des gerade vergangenen Tages.
tako


03. Oktober 2020
KLEINE EINLEITUNG MIT DEN SIEBEN BRÜDERN

In der Friedrichshainer Pablo Neruda Bibliothek hatte ich mir einen Reiseführer für Finnland ausgeliehen,
den ich dabei hatte als ich meine Freundin Maebh zwei Wochen vor meiner Abreise nach Tampere traf.
Sie griff nach dem Buch: „Let's see“, sagte sie, schlug nach lustigem Zufallsprinzip irgendeine Seite
auf und begann einen Absatz über das weiche, kalkarme Wasser zu lesen:
„In Finnland müssen Sie ihre Spülmaschine nicht entkalken!“ Maebh fiel in schallendes Gelächter und
klappte das Buch gleich wieder zu: „That's so German!“, sagte sie. Ich empfand ihren Spott als
erlösend, das Büchlein sagte mehr über den Autor aus als über das Land selbst.

Wenn ich Reiseführer lese, vergeht mir meistens die Lust am Reisen, sie bestimmen, welches Ding, welches
Gebäude, des Sehens würdig ist. Aber worum geht es beim Reisen überhaupt, frage ich mich manchmal.

Ich kann mich noch gut an meine Reise nach Porto erinnern, ich war eine Woche dort. Doch ich kann mich an
keine Sehenswürdigkeit erinnern. Es zog mich einfach wie automatisch aus dem historischen Zentrum raus.
Gar nicht bewusst. Wie an einer sehr langen Leine bewegte ich mich um die Drehpunkte herum, lief weite
Strecken ins Periphere und landete irgendwann auf einer Brücke, die als Autobahnverbindung diente. Weil
ich nicht einfach umkehren wollte, lief ich der dreispurigen Autobahn auf einem schmalen Streifen für einige
hundert Meter nebenher, kroch irgendwann durch einen Maschendrahtzaun hindurch, erreichte über einen Erdhügel
ein Wohngebiet mit Bürgersteigen, folgte schließlich Schildern mit schwarzen Kreuzsymbolen und verbrachte den
Vormittag auf einem riesengroßen Friedhof mit bunten Plastikblumen auf den Gräbern. Ich las Inschriften auf
Grabsteinen, spekulierte bei großen Familiengräbern über Verwandtschaftsverhältnisse und errechnete Todesalter.
An vielen alten Gräbern von Menschen im Kleinkind- oder Säuglingsalter ließen sich Epidemien und Kinderkrankheiten
ablesen. Ein Friedhof war das eigentliche historische Zentrum einer Stadt, dachte ich mir.
Während meines gesamten Aufenthalts in Porto war ich immer knapp an einigen Highlights vorbeigelaufen. Und trotzdem
hatte ich nicht den Eindruck, dass ich irgendetwas verpasst hatte.

Das Definieren von Sehenswürdigkeiten in Reiseführern ist das geringere Problem. Schlimm wird es, wenn die Autoren
versuchen, den Charakter einer ganze Nation auf ein paar Seiten abzubilden. Dann beschleicht einen irgendwann ein
unangenehmes Gefühl. Übertreibungen und Schubladen sind leicht geschrieben und werden wohl gern gelesen. Alles, was
differenziert und wenig plakativ rüberkommt, wirkt schwierig und wirft den Leser auf seine eigene Perspektive zurück.
„Fahr dort hin und mach' Deine eigenen Erfahrungen“, liest man in Reiseführern nicht.
Statt mich Reiseführern zu widmen, entschied ich mich für das Lesen von finnischer Literatur. Und wenn man zu diesem
Thema recherchiert, stolpert man schnell über Aleksis Kivi (*1834), der als der Begründer der finnischen
Literatur gilt. In seinem Roman Die sieben Brüder erzählt er von ebendiesen „Jungens“ (so heißt es in der
Übersetzung von Edzard Schaper), die nach dem Tod ihrer Eltern ihren Hof Jukola verlassen, um ihre Jugend in der Wildnis
des Waldes auszuleben und so an sich selbst und den anderen zu wachsen, bis sie in ihr Dorf zurückkehren und Familien
gründen. Zwar sind sagenhafte Schmöker von 506 Seiten nicht ganz mein Ding, doch nach den ersten beiden Kapiteln, in denen
die Brüder vergeblich versuchen, zu siebt eine Frau an Land zu ziehen, fand ich dann doch ganz gut in die Geschichte hinein.
Gestützt wird der Roman durch die ständigen Kämpfchen zwischen den Brüdern, sei es in Form von körperlichen Raufereien oder
verbalen Schlachten, die in flinken Dialogen vollführt werden. Ebenso häufig wie gestritten wird, reichen die Brüder die
Bierkanne herum, um sich wieder zu versöhnen. Bereits zu Anfang der Lektüre fiel mir die Strukturierung der Erzählung in
unterschiedliche Textblöcke auf: Einerseits sind da die lustigen Dialoge, in denen die Jungens sich verbal bekriegen.
Andererseits die längere Textpassagen aus Sicht des Erzählers, der dem Leser den Fortgang der Geschichte beschreibt, in
denen nicht selten auch mal mehrere Jahre zusammengefasst werden. Die direkte Rede wird im Text selten mit einem Tun in
Verbindung gestellt. Wenn geredet wird, und das Tun die Brüder gern und viel, dann wird geredet. Vor dem Zubettgehen werden
sie nie müde, sich einander lange Gutenachtgeschichten zu erzählen, zum Beispiel über Trolle, die es auf bleiche Jungfrauen
abgesehen haben. Die Geschichten in der Geschichte machen den Roman zu einem vieldimensionalen literarischen Werk. Als Person,
die sich beim Lesen gern an sprachlichen Details aufhält, sammelte ich Beschreibungen von Dingen, die in den Romanen und
Büchern, die ich sonst lese, eher selten vorkommen, darunter z.B. die häufig erwähnten „bemoosten Steine“, die ich auch prompt
auf dem ersten längeren Spaziergang am ersten Tag nach meiner Ankunft in Haihara vorfand. Unten also ein Bild dieser Steine im
Wald am Kaukajärvi. Vielleicht handelt es sich bei diesen ja um die versteinerten Brüder, denn die Brüder selbst habe ich bis
jetzt noch nicht im Wald getroffen.
bs

Ein neues Kapitel zu beginnen, empfand ich wie einen Eintritt in ein neues Level eines Adventure Games,
bei dem es darum geht, mit Hilfe von Spielfiguren die Feinde der Wildnis des Waldes zu bewältigen.
Kivis Einfallsreichtum bei der Beschreibung von solchen Situationen ist schier grenzenlos.
So zertrümmern die Brüder an einer Stelle einen Ochsenschädel mit zuvor ausgehebelten jungen Bäumen.

Und eine Kate, also ein kleines Haus, das die Jungens kurz zuvor gerade erst aufgebaut haben, brennt
einfach so ab – und zwar im Hintergrund, ohne dass es einer der Brüder mitbekommt. Diese slapstickhaften
Szenen hätten wunderbar in Filmen von Buster Keaton vorkommen können, in denen ein Haus manchmal einfach
so in sich zusammenfällt oder als akrobatischer Turnübungsplatz für den drahtigen Keaton herhalten muss.

Die ganz individuelle Dummheit, also der eigentliche Charme der sieben Jungens, wird bloß von der
Originalität ihrer Sprache übertroffen („Du sagst Gesundheit, bevor du's Niesen gehört hast,
du Kuckucksbraten, du glotzäugiger Auerhahn“).
Lauri, einer der jüngeren der sieben Brüder, beginnt die Umgebung durch genaue Beobachtung zu
studieren, auch seine Träume lassen ihn mit neuen Erkenntnissen zurück.
Kivis Absicht ist die Schilderung des persönlichen Kampfs nach Freiheit, der wohl pars pro toto für
den Befreiungskampf Finnlands steht, das zur Zeit der Veröffentlichung des Buchs dem schwedischen
Königreich unterstand. Diese Großmacht gestattete den Finnen das Heiraten nur dann, wenn sie das Lesen beherrschten.
Umso lustiger also, dass die sieben Brüder 400 von 500 Seiten lang mit ihren Tornistern durch den Wald
rennen, ohne nur einmal in ihre ABC-Hefte zu schauen.

Nicht nur durch Kivis Naturbeschreibungen wuchs meine Neugier und meine Vorfreude, all diese verborgenen
Eigenheiten des Walds bald selbst im Rahmen meiner Residenz aufspüren zu dürfen. Es ist vor allem
der Humor, der das gesamte Buch so tief durchdringt, dass man es nur liebhaben muss. [Lustiger
Weise und total unbegründet wundere ich mich immer noch besonders über den Humor in älteren
Büchern von längst verstorbenen Autoren oder wenn diese in Alltags- und Jugendsprache schreiben
oder über Sex oder Albernheiten - so als hätten vergangene Menschen all das nicht gehabt.
Dadurch dass beschriebene Gefühlszustände (darunter auch Freude, also Humor) zu allen Zeiten
gegeben waren, sind und sein werden, vermengen sich alte und neue Texte zu einem Gebilde,
das außerhalb seiner Zeit Geltung hat, allein durch die Sprache.

Die von Edzard Schaper ins Deutsche übersetzte Version erschien 1950 im Manesse Verlag, erlebte
acht Auflagen, die letzte 1997, schreibt mir Tonia Kempe, eine Mitarbeiterin des Verlags.
Seit 2006 sei das Buch nicht mehr lieferbar. In den Jahren 2003 bis 2006 habe sich die Zahl der
jährlich verkauften Exemplare von ca. 400 auf etwa 200 verringert.
Mein eigenes Exemplar, die Erstauflage von 1950, stammt aus einem Antiquariat. Die
finnische Erstveröffentlichung 1870 feierte dieses Jahr 150. Geburtstag, vielleicht eine gute
Gelegenheit für eine Neuauflage. In der gegenwärtigen Kultur Finnlands scheint es jedenfalls
fest verankert, hier ein Foto von den sieben Brüder als Aufführung im Puppentheater im Post
Museum Tampere.
kivi
(Foto: Pirjo Rantanen 2020)



04. Oktober 2020
LONNIE

Durch das Lesen von Romanen erfährt man Orte. So haben die Sieben Brüder mir eine Facette Finnlands
näher gebracht, als so mancher Reiseführer. In diesem Sinne – eben keine Handreichung für Tampere vorzulegen
– plane ich nun, meine Eindrücke hier vor Ort in einer kleinen Fortsetzungsgeschichte zu verarbeiten. Als
fiktive Geschichte, in der ich selbst nicht vorkomme.
Fiktionale Texte vermögen zu verdichten, anders als einfache Tatsachenberichte. Eigene Gedanken können einfach
erdachten Protagonisten angedichtet werden.
Ob sich in der Erzählung wahre Momente wiederfinden, vermag ich nicht zu garantieren.

Hauptperson der geplanten Geschichte ist Lonnie, eine Siebzehnjährige, die nach Tampere reisen muss,
weil sie beauftragt wurde, neue Konzepte für die dortige Kartonfabrik vorzulegen.

Da ich die ersten beiden Oktoberwochen in Quarantäne in einem Mökki außerhalb des Stadtzentrums
von Tampere verbringe, handeln die ersten Kapitel von der Anreise und den Outskirts der schönen
finnischen De-Industriestadt. Ob es Illustrationen zur Geschichte geben wird, kann ich noch nicht
versprechen.

Wie ich auf den Namen Lonnie gekommen bin, weiß ich nicht genau. Ich hab mal ein Referat über
"Skiffle als Vorläufer des Beat“ gehalten, und Lonnie Donegan war einer der Interpreten dieses Genres,
vielleicht heißt Lonnie deshalb so.
Wenn ich nicht über Lonnie schreibe, liefere ich ein wenig TAGESSCHAUM, also eine Impulszusammenfassung
des Tages.


TAGESSCHAUM VOM 05.10.2020.HERVANTA
Nach einer unruhigen Nacht mit zu heißer Heizung (ich weiß noch nicht genau, wie ich die reguliere, außerdem habe ich etwa
drei Stunden wach gelegen und darüber nachgedacht, weshalb ich mich bislang weigere, über Corona zu schreiben, ganz anders als
die angesagten geknickten Autoren, die es seit Monaten tun, es bedeutet überhaupt nicht, dass es mich nicht betrifft, aber jeder
scheint sich in der Darstellung seiner unerfüllten Bedürfnisse überbieten zu wollen), habe ich erstmal die Fenster aufgerissen. Nachmittags hab
ich eine Radtour in das 3 km entfernte Stadtviertel Hervanta gemacht. Für Fahrräder gibt es hier auch so etwas wie Autobahnen, auf
denen man in Windeseile von einem Ort in den anderen radeln kann.

Hervanta erinnerte mich an Neubrück, den Kölner Stadtteil, in dem ich aufwuchs. Vor allen beim Anblick der maroden
Fassaden der Hochhäuser wurde mir plötzlich wohlig warm ums Herz, es fühlte sich vertrauter an als jeder einzelne Baum,
der mir hier bislang begegnet ist.

hervanta
Werde gleich zum Schlafen die Fensterläden wieder schließen und schaue vorsichtshalter mal unter das Bett...
Ich habe mich auch schon dabei ertappt, in die Schränke zu schauen, ob sich irgendwer dadrin versteckt.


TAGESSCHAUM VOM 06.10.2020.
Ausflug ins Stadtviertel Keskusta

Wenn ich draußen unterwegs bin, habe ich kein mobiles Internet und nutze deshalb auch kein google maps.
Das mache ich schon lange so, oft schaue ich mir die Route zu einem Ort zuvor auf einer Karte an, notfalls
zeichne ich grob die Strecken des anstehenden Trips auf ein Stück Papier. Es klappt, und unvorhergesehene Umwege
verzeihe ich mir. Wenn ich mit dem Fahrrad losfahre, gilt es, die abgefahrenen Strecken abzuspeichern,
alle zehn Minuten halte ich inne, um nachzuspüren, wo sich in Luftlinie mein Startpunkt befindet, um eben notfalls,
einfach wieder nach Hause zu fahren.
Vorhin habe ich mir nochmal das Foto mit den Wegpfeilen angeschaut und überlegt, ob ich nicht heute mal
nach Keskusta fahren könnte. Ich hielt es für einen Stadtteil, habe im Internet geschaut, was mich dort
so erwartet, und bin dabei auf die Info geraten, dass Keskusta einfach Zentrum bedeutet. Ich kleiner Doofi! :)
Kekusta ist übrigens auch der Name einer finnischen Partei, dessen Programm ich, obwohl ich's vorhin mal kurz
überflogen habe, hier nicht erörtern möchte und nicht unfreiwillig Werbung für irgendwas machen, was mir nicht vertraut ist, ein vierblättriges Kleeblatt als Parteilogo bedeutet nicht unbedingt das Glück für alle.

zentrum


08.10.2020. Über Sprache
Wenn Du mit der Finnischen Sprache konfrontiert wirst, dann kannst Du plötzlich alle anderen Sprachen. Natürlich absolut
übertrieben. Aber nun scheinst du alle anderen Sprachen viel leichter zu verstehen, selbst wenn du sie nie gelernt hast.
Heute morgen habe ich eine italienische Rezension von einem Buch überflogen, das ein Kollege von mir kürzlich auf Englisch
rausgebracht hat. Natürlich fehlten zum vollen Verständnis einige Vokabeln, aber jedes vierte italienische Wort dieser Rezension
war mir um ein paar Ecken vertraut, und bei jedem Absatz schien ich zumindest eine Ahnung davon zu haben, worum es ungefähr geht.
Italienisch lernst Du durch Speisekarten, durch italienischen Schlager auf Berliner Konzertveranstaltungen (vor Corona!), durch
Angaben von Zutaten auf den Verpackungen von importierten Nahrungsmitteln, die du im Supermarkt kaufst. Finnische Begriffe suchst
du im Lidl oder in der BioCompany vergeblich. Nachdem ich auf Übersetzungsseiten im Netz und in Sprachbüchern herumgeschmökert hatte,
wurde mir schnell klar, dass Finnisch keine Sprache ist, die einem beim Erlernen von Vokabeln Eselsbrücken an die Hand gibt.
Um mich zumindest mit Melodie und Rhythmus der Sprache vertraut zu machen, schaute ich finnische Filme mit englischen Untertiteln,
darunter auch Aki Kaurismäkis „Ariel“ (1988). In diesem Film mustert die junge Politesse Irmeli während ihres
Dienstes ein Cabrio mit offenem Verdeck. „Anteeksi“ („Entschuldigung“), sagt sie zu dem Besitzer der Karre, während sie den
Strafzettel unter den Scheibenwischer klemmt. Im Anschluss bahnt sich recht schnell ein distanziert vertrautes Liebesverhältnis
zwischen den beiden an. „Anteeksi“ wurde zu meinem Lieblingswort, das aus dem Mund der Schauspielerin Susanna Haavisto viel schöner
klingt als seine deutsche Übersetzung. Anteeksi, anteeksi, anteeksi. Gar nicht so schwierig, ich würde es in meinem Residenzalltag
sicher nutzen können.
anteksi
(Ariel, 1988)

Bei meinen täglichen Streifzügen durch die Supermärkte Tamperes werde ich weiterhin auf der Suche nach Begriffen bleiben, deren
Übersetzungen sich irgendwie ableiten lassen. Die, die man gleich versteht, nachdem man sie laut ausgesprochen hat, (zum Beispiel
„kuitti“ → „Quittung“) sind kleine Geschenke. Mittlerweile schalte ich das Radio auch nicht mehr aus, wenn die Nachrichten kommen.
Ich ertrage die Sprache besser und freue mich über jedes einzelne Wort, das ich wiedererkenne.
Wenn man lange genug an einem anderen Ort ist, fängt man an, in der Sprache des Ortes zu denken. Das ist mir passiert, als ich eine
Zeit lang in England lebte und arbeitete. Das kommt ganz automatisch, weil man nie weiß, ob man urplötzlich von irgendwem angesprochen
wird und dann reden muss. Dass Menschen in verschiedenen Sprachen denken, hat mich immer fasziniert.
Als ich heute mit dem Rad in der Innenstadt war, habe ich mich auf eine Bank gesetzt mir die Leute angeschaut und mir vorgestellt, wie
sich alle yksis, kuittis und anteeksis darin zu einem bunten Haufen versammeln, um sich in unterschiedlichen Kombinationen miteinander zu
verketten.


Info zu Lonnie am 09.10.2020
Zwei Lonnie-Kapitel sind auf Papier. Anders als bei den Tagesschaums bedarf diese Rohform noch einer intensiven Überarbeitung.


Jackensauna am 10.10.2020

In der Sauna war ich noch nicht. Mein fürsorglicher Mitbewohner in Berlin hat mir eingeredet, dass es in Finnland jeden
Tag regnet. Die letzte Regenjacke habe ich mir 1997 in einem Charity Shop in Cheltenham gekauft. Sie ist nicht mehr ganz
dicht und in dem Klettverschluss haben sich über die Jahre die Flusen aller Orte angesammelt, in denen ich seitdem gelebt
habe, weshalb ich mir vor ein paar Wochen eine neue Jacke zulegte. Sie ist gummiert und mit einem dünnen Sweatshirtstoff
gefüttert. Wenn ich damit zehn Schritte getan habe, dampfe ich wie in der finnischsten Sauna Finnlands, Jackensauna.
Wenn meine Quarantäne vorüber ist, werde ich aber mal die benachbarte Sauna in Kaukajärvi aufsuchen und davon berichten.

Die Jacke ist übrigens gräulich lindgrün und hat zwei dunkelblaue Blockstreifen. Wenn ich in dieser Jacke um den hiesigen
Teich spaziere, falle ich unter all den neongelben und neonpinkfarbenen teilweise stocklosen Nordicwalkern unangenehm auf.


TAGESSCHAUM VOM 10.10.2020
Heute ist Aleksander Kivis 150. Geburtstag! Also der Autor des Buchs, das ich unten am 3. Oktober kurz besprochen habe.
Sein Geburtstag wird als Tag der Literatur in Finnland jedes Jahr gefeiert.
Da ein Treffen mit einer Bekannten kurzfristig auf morgen verlegt wurde, werde ich heute einfach mal nach Pispala radeln,
das ist ein Stadtbezirk, der auf dem Stadtplan bloß als Streifen Land eingezeichnet ist, der den einen großen See vom anderen
großen See trennt.
In einem Bücherregal hier im Haus habe ich einen alten Bildband über Pispala gefunden, den ich mitnehmen und schauen werde,
ob einige der dort abgebildeten Häuser noch existieren. Wie man Aleksander Kivi heute in den Straßen huldigt, werde ich sehen.

Nun gut, von den öffentlichen Feierlichkeiten in der Innenstadt wurde ich eher enttäuscht. Auf den Bürgersteigen applaudierten
Menschen Läufern eines Marathons zu. Lautsprecher mit Durchsagen schepperten an jeder Straßenecke.
Ich finde Marathons immer lästig. Zumindest bleiben die Parks an den Tagen schön leer.
Nachdem ich zufällig an einem sympathischen Gerümpelladen vorbeigekommen bin, wo ich mir ua eine Postkarte für die Daheimgebliebenen
gekauft habe, fuhr ich mit dem Rad über Pykkini Richtung Pispala. An wunderschönen kleinen Häuschen vorbei bin ich dann links in ein
Sträßchen eingebogen, ließ das Rad stehen und lief die Berglandschaft ein Stück weiter hinab und schaute über den Pyhajärvi
der Sonne entgegen.
pispala
Mehr möchte ich dazu gar nicht schreiben. Das Foto oben erklärt sich von selbst.
Ein paar Meter weiter habe ich dann ein Schild zu einem "Lauri Viita Museum" gesehen,
das sich als Elternhaus des gleichnamigen  Dichters entpuppte.
Viita war Autodidakt wuchs in Pispala auf. Genau wie das heutige Geburtstagskind Aleksis Kivi
hatte er seelische Leiden und verbrachte einige Episoden in Kliniken.
Mir fällt zu diesem Thema einiges ein, was ich aber aufgrund der einbrechenden Nacht nicht richtig in Worte fassen kann.
Fragen von Kausalzusammenhängen (Kunst/Krankheit) sind schwierig, vor allem, weil Kunst dann nicht mehr als ein Resultat
eines "ehrlichen" Handwerks, sondern einer perfiden Konstellation verstanden wird.
Davon mal abgesehen war Viita unter anderem mit Aila Meriluoto verheiratet, die trotz eines sicher eher aufwühlenden
Lebens mit Viita ein beachtliches Gesamtwerk an Gedichten hervorbrachte.
TAGESSCHAUM VOM 13.10.2020
Heute habe ich einen freien Tag, also keine Ausflüge oder Treffen geplant, und werde mal versuchen, die letzten
drei Tage in Worte zu packen. Ich hoffe, es wird nicht zu stadtsoziologisch und analytisch. Gestern Abend
hab ich dazu handschriftlich einige Notizen aufs Papier gebracht und es hat mich sehr an die Arbeit an meiner Dissertation
erinnert, man hat versucht, die wichtigsten Punkte eines Gesprächs zu fassen und in Zusammenhang zu stellen mit
bereits gemachten Beobachtungen oder Texten. An Material und Themen für eine Dissertation mangelt es nie, es ist sogar
relativ einfach im Vergleich zum fiktiven Schreiben. Was anstrengend dabei ist, ist der "Realitätsanspruch",
damit meine ich keinesfalls, dass ich hier falsche Fakten gutheiße! Es ist einfach nur diese spezifische Schreibe
wissenschaftlicher oder auch journalistischer Literatur, die einen beim Schreiben etwas einschränkt, und auch eine
gewisse Dringlichkeit, die aus diesen Texten hervorgehen soll, die oft mit einem zu erklärenden Schreibstil einhergeht.

Mal schauen, wie weit ich bei dem Krach der Bauarbeiten vor dem Fenster heute komme. Fühle mich bei Baustellenlärm
"ganz zu Hause" :) Auch in Berlin wird seit Monaten die Dachetage eines Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite
ausgebaut, weshalb ich den Sommer in diversen anderen Arbeitsräumen und in der Stabi verbrachte. Aber die Bauarbeiter
hier sind freundlicher :)


TAGESSCHAUM VOM 12.10.2020
Pyynikki als Zeitmaschine
pyniki
Boote am Seeufer von Pyynikki
Am Sonntag fahre ich mit dem Rad erneut ins Stadtzentrum. Ich bin mit Meri verabredet, die in Pyynikki lebt, nicht weit
entfernt von diesem Aussichtsturm, an dem ich am Vortag eher unbeeindruckt vorbeigefahren bin. Als ich ihr Haus erreiche,
gräbt sie noch etwas im Vorgarten herum. Ich stelle mein Rad hinter einen Busch, wo es sicher steht. Meri verstaut noch
irgendwas in ihr Handtäschchen, das sie sich um ihren Unterarm legt wie um einen Garderobenhaken.
Wir laufen eine steile Treppe hinauf auf den Berg mit dem Turm. Auch heute bohrt sich eine Menschenschlange aus dem Eingang
heraus wie ein langer Wurm, und Meri erklärt mir, dass die alle nur für „Munkki“ anstehen, die in dem kleinen Turmcafé
verkauft werden. Bis wir an der Reihe sind, unterhalten wir uns auf Englisch, u.a. über einen gemeinsamen Freund, der den
Kontakt zwischen Meri und mir hergestellt hat, Meri treffe ich heute zum ersten Mal.
Mit dem Gebäck in einer Papiertüte laufen wir hinunter und spazieren am Ufer des Pyhäjärvi entlang, zwei große Sandstrände,
vor zwei Monaten wurde hier noch fröhlich unter der heißen Sommersonne gebadet. Doch dieser Oktobersonntag ist auch ok.
Wir passieren einen leeren Parkplatz mit schwarzen Spuren, die sich wie ein unruhiges Muster über den Asphalt verteilen.
An den Abenden kommen junge Leute mit ihren Autos hier her und liefern sich Autotänzchen und drehen schnelle Pirouetten.
Wir verlassen den Uferweg und laufen über eine Minigolfanlage zu einer ehemaligen Anlage, die sich in unmittelbarer Nähe
zu einem ehemaligen Fabrikgelände befindet, das vor ein paar Jahren zu einem Gebäudekomplex mit Lofts umgewandelt wurde.
Darüber thront der schwarzgefärbte Klinkerschlot – mehr schickes Accessoire denn historisches Denkmal für die Jahre der
Industrialisierung.
Nahezu unberührt und unsaniert ist das Gelände daneben, das an die damalige Fabrik angegliederte epidemiologische Zentrum.

klinik
Dieses Gebäude ist die dazugehörige Klinik, die in späteren Zeiten auch als Studentenwohnheim genutzt wurde.
Heute ist es ein Atelierhaus.


zeit
Das niedrige Gebäude diente den Fabrikarbeitern in den früheren Zeiten zum An- und Auskleiden.

efeu
Das kleine rot bewachsene Haus war zu Fabrikzeiten die Sauna, in der die Kleidung der Arbeiter desinfiziert wurde.
Heute proben dort Bands.

Meri stellt mich Mika vor, der das gesamte Gelände um  Pyynikki Aikamatkat koordiniert.
Hier finden Kunstworkshops statt. Zudem werden die Räumlichkeiten als Ateliers von Künstlern genutzt.
Mika lebt und arbeitet seit 2010 in dem flachen Gebäude. Hier hat er auch seine Zeitmaschine (Aikamatkat) hineingebaut,
eine sehr persönliche Installation. Die Bezeichnung „Zeitmaschine“ ist doch auch mustergültig für das gesamte Areal,
das das versucht, seine eigene Vergangenheit zu bewahren und sie vor den Vorhaben stumpfsinniger Investoren zu schützen.
Das schreibe ich jetzt mal so lapidar hin, weil ich einfach weiß, dass die Pläne, die für den Stadtteil Pyynikki
angedacht sind, wirklich haarsträubend sind: So steht bspw. schon lange eine Skyline auf der Agenda der Stadtplaner, also
eine stereotype Zusammenstellung einiger Hochhäuser, die an das Ufer Pyynikkis gesetzt werden und Tampere einen metropolitanen
Touch verleihen sollen. Die Pläne sind noch nicht in trockenen Tüchern, doch wer mit dem Rad durch die Innenstadt fährt, bekommt
eine sichere Ahnung davon, dass die Stadt an vielen Stellen aufstockt. Überall sind Absperrungen, hinter denen gebaut wird oder
Straßen erweitert werden.

In Verbindung mit unsanften Methoden der Stadterneuerung ist es leicht vorstellbar, dass dem Stadtrat das Gelände mit Mikas
Zeitmaschine ein Dorn im Auge ist. Mika erzählt, vor kurzem wurde ein schöner Artikel über ihn und das Gelände in einer Zeitung
veröffentlicht. Die positive Berichterstattung habe dem Stadtrat überhaupt nicht in den Kram gepasst. Und gerade heute erhielt Mika
einen Anruf von Maria (Maria Mattila, ich werde sie später treffen, s.u.), die wiederum von einem Verantwortlichen kontaktiert
worden sei: Die Stadt will mal wieder, dass er geht. Alle vier Jahre werde diskutiert, was mit dem Gelände passiert, sagt Meri
das sei natürlich abhängig von jeweiligen politischen Vertretern, die zu dieser Zeit über die Pläne abstimmen.
Noch bleibt Mika entspannt. Die Reaktion auf Verdrängungsprozesse hier ist eine andere als in Berlin, denke ich laut.
„It seems like if everyone knows everyone.“
Meri bestätigt meine Theorie: Wenn es Klärungsbedarf gibt, greift man zum Hörer.
Zudem müsse man dem Stadtrat gegenüber immer argumentieren, dass es sich um „youth spaces“ handelt.
„They don't understand the idea of artistic freedom, that needs space.“
„No, they don't.“

Künstlerische Freiheit hin oder her, wichtig ist, dass diese Örtlichkeiten vor allem auch soziale Treffpunkte sind.
Genau das betont Vappu, mit der ich einen Tag später zusammen mit ihrer Hündin Alma über den Schweißberg in Kaukajärvi spaziere.
Sie berichtet von einem Hausprojekt in Pispala (das ist dieser tolle Stadtbezirk, in dem Lauri Viita aufwuchs, s.u.), dessen
Neugestaltung die Nachbarschaft förmlich, wie sie sagt, "traumatisierte". In der dortigen Sauna hätte sie so viele nette Frauen
damals kennengelernt. Nicht nur für sie sei das Haus in Pispala zu einer wichtigen Anlaufstelle geworden. Die Stadt hätte das Haus
damals zwar nicht verkauft, auch gäbe es in der neu konzipierten Villa eine Sauna, die sei aber – anders als früher – nicht immer
für jeden zugänglich. Das, was mir Vappu über das frühere Hausprojekt berichtet, klingt dagegen nach einem unbezahlbaren Gut:
Die Stadtplaner und Investoren würden nicht verstehen, dass das ein sozialer Ort war, der langsam und von allein gewachsen ist,
und dass sich sowas nicht planen lässt.

Zurück auf dem Gelände der epidemiologischen Klinik:
Mika fordert Meri und mich auf, ihm in sein Haus mit der Zeitmaschine zu folgen, die er uns zeigen möchte.
„Munkki get cold“, Meri hält die Tüte mit den Donuts in die Höhe, sie hat offenbar gerade keine Lust auf Zeitmaschine.
Sie möchte nur durch Mikas Ausstellungsraum durch, um sich mit mir auf der anderen Seite in den Garten zu setzen. Doch als
wir an der Hintertür stehen, ist der Ausgang versperrt. „He does this on purpose, we are trapped!“, sagt Meri.
Ich finde es lustig. Es wäre doch unhöflich, nach draußen zu gehen, ohne sich Mikas Werk nicht zuvor mal angeschaut zu haben,
denke ich, bleibe drin und lasse mir alles zeigen. Toll, was er in den letzten Jahren aufgebaut hat und vor allem interessant,
dass er in seinem Kunstwerk sogar auch lebt, also auch kocht, liest und schläft.
Meri hat sich in den Garten verpisst, ich finde sie draußen, wo sie auf einer Bank an einem Tisch sitzt.
„I didn't want to appear impolite“, erkläre ich, „have you seen Mikas time machine?“
Meri verdreht die Augen, ich muss laut lachen als sie sagt: „A! Thousand! Times!“ Sie packt ein Küchentuch mit Tassen aus,
schenkt Kakao aus einer Thermoskanne ein und reißt die Tüte mit den Munkki (Donuts mit Kardamon) auf, die doch sehr vorzüglich
schmecken und mich schon ein wenig auf die Adventszeit einstimmen.
Wir trinken noch einen Fingerhut russischen Anisschnaps, und als Mika von einer weiteren kleinen Führung aus seiner Zeitmaschine
zurückkehrt, und wir ihm kein Munkki geben können, weil wir nur zwei Munkkis dabei hatten, sagt er zu uns: „You don't like my art!“
Meri antwortet: „I hate culture, I hate art!“
Das stimmt natürlich nicht, vorher hat sie mir noch erzählt: „I do love his work and think it’s important in various ways, and that’s
why I keep bringing people to see it."
Na klar! Trotzdem finde ich es interessant, dass man mal offen ausspricht, dass man Kunst und Kultur hasst, selbst wenn man
es gar nicht so meint. In Berlin darf man das nicht. Jeder hat sich ernst zu nehmen, damit bloß keiner dahinter kommt, dass man doch
eigentlich ein Volldilettant ist. Dass man eine Sache richtig hasst, denke ich später, zeigt ja auch nur, dass man sich länger
Gedanken über diese Sache gemacht hat, und die Sache womöglich einmal sehr geliebt hat.

Das Problem mit Selbstzweifeln und dem fehlenden Selbstvertrauen ist mir so vertraut, eigentlich basiert alles, was ich tue, auf
diesem Gefühl. Selbstzweifel gehören einfach dazu. Eigenüberzeugung läuft sich einfach zu heiß, und dann ist alles verbrannt.
Der selbstironische Umgang mit eigenen künstlerischen Praktiken, wie ihn auch Mika uns gegenüber zum Ausdruck bringt, ist sympathisch.
Und genauso ist auch die allgemeine Offenheit der Leute mir gegenüber, dabei bin ich doch auch nur eine Besucherin auf Zeit.

Maria wünscht sich für Mika mit seiner Zeitmaschine mehr Rückgrad, er müsse den offiziellen Stadträten gegenüber mit "more confidence"
auftreten. Tja, hm, ja, denke ich, auch mir fallen ein, zwei Situationen ein, die sich für mich vielleicht besser entwickelt hätten,
wenn ich nicht den doofen Bückling gemacht hätte. Schade, dass viele Menschen andere Menschen so oft unterschätzen und man deshalb einen
auf dicke Hose zu machen hat, um für voll genommen zu werden. Dabei haben doch auch die, die nicht viel reden, eine Meinung. Und die Rolle
des professionellen Entrepreneurs steht einfach nicht jedem, diese Leute müssen diesen Zirkus auch nicht mitmachen. Einziges Merkmal von
entrepreunial professionality sollte doch sowieso Freundlichkeit und ein bisschen Intelllikenz sein, im Kampf um den Stadtraum kommt
man damit nicht wirklich weit.

Sie, also Maria Mattila, treffe ich am frühen Abend in ihrer schönen großen Onkiniemi Ateljee.
Das Atelier befindet sich in einem großen Gebäudekomplex von Suomen Trikoo, einer 1905 gegründeten Textilfabrik (s.u.).
Erst vorletzten Monat hat Maria den Vertrag für den lichten hohen Raum abgeschlossen.
Gestern Abend hatte ein Freund, Jussi, hier seine Finissage, er hängt gerade noch die letzten Bilder von den Wänden. An Tischen in einer
Ecke stehen kleinere Kunstwerke, Kunstbücher und Schallplatten zum Verkauf.

Nachdem Maria lange Zeit als Gitarristen in Bands aktiv war, fand sie nach einem psychischen Zusammenbruch zur Kunst, die sie seitdem
unterstützt. Natürlich hat sie seitdem immer noch mit düsteren Tagen zu kämpfen, sagt sie, doch sie ist sich ihrer vermittelnden
Rolle zwischen Stadt und den vielen Assoziierten der Kunst- und Musikszene von Tampere bewusst, und das lässt sie unglaublich stark
erscheinen.

Drei Jahre lang verantwortete sie die Organisation von Konzerten im Gelben Haus („Keltainen Talo“),
einem nichtkommerzieller Veranstaltungsort in Kaleva, der allen offenstand. Sie selbst beschreibt es als Experiment: Sie wollte zeigen, dass ein öffentlicher
und gemeinschaftlicher Raum ohne Hierarchien, Geld und Macht funktionieren kann. Das Gelbe Haus ist das Schönste, das sie erfahren habe,
heißt es in ihrem Kommentar zu dem verlinkten Youtube-Video.

Dass das gelbe Haus nach drei Jahren abgerissen wurde, betrachtet Maria mit wenig Kampfgeist: „I knew from the beginning that we have to leave in three years“, erkärt sie mir. Doch dass die Stadt ihr nach dem Abriss des Hauses keine Alternative anbot, nach allem, was
sie geleistet hatte, sei bedauerlich gewesen. Umso fröhlicher wirkt Maria nun über den Neuanfang im neuen Atelier, der
jetzige Vertrag läuft über zehn Jahre, was bedeutet, dass sie erstmal Luft für alle künstlerischen Projekte hat, die sie und ihre
Freunde umsetzen möchten. Es sind fünfzehn Schlüssel für das Atelier im Umlauf und sie wisse auch nicht, wer was vorhabe. Auf die
Freiheit aller Beteiligten legt Maria großen Wert und hebt den Begriff „Empowerment“ hervor. Kunst hat sie selbst nie studiert,
weiß aber genau, wie wichtig und heilsam der kreative Ausdruck ist, und dafür braucht es Raum. Ihr Vorhaben klingt stimmig und klug
– nicht nur wenn man bedenkt, dass die Kunsthochschule in Helsinki jedes Jahr gerade mal einen neuen Studierenden aufnimmt.
Jeder solle Kunst machen dürfen, sagt sie, nicht nur die, die das studiert haben, letzteres sei eine ganz andere Geschichte.
Sie erzählt mir noch, dass sie das Haus des kürzlich verstorbenen Künstlers Ossi Somma bewohnt, dessen Nachlass, sie gerade verwaltet.
Ein paar Tage, nachdem Maria sich dem alten Mann vorstellte, sei er gestorben, erzählt sie mir. Offenbar sah er seine Werke bei Maria in guten
Händen und war so imstande, sich aus dem Leben zu verabschieden.
Die Skulpturen befinden sich in der Gartenanlage des Künstlers, wo sie von der Öffentlichkeit besichtigt werden können.
Folgt man dem künstlerischen Konzept Sommas, so erklärt es mir Maria, haben die Skulpturen mit der Zeit eine Einheit mit der natürlichen Umgebung
zu bilden, die Kunstwerke haben sich der somit dem Wachstum der Flora und auch den Witterungen zu fügen.
Eine „Pflege“ der Skulpturen im strengen Sinn, ist also nicht vorgesehen. Doch die Skulpturen zumindest aufzuheben, wenn sie, zum Beispiel
durch ein Unwetter, umgekippt sind, sollte wohl erlaubt sein, darüber hat Maria sich mit Verwandten des verstorbenen Künstlers ausgetauscht.
Spannende Zeiten, durch die Maria gerade geht. Ich wünsche ihr für ihre Vorhaben alles Gute und wünsche ihr viele Menschen, die sowohl
ihre Galerie als auch den Garten Ossi Somma besuchen und einen wichtigen Teil von Tamperes eher verborgenen Kunstszene kennenlernen.
triko
Suomen Trikoo, alte Textilfabrik


PS: TAGESSCHAUM VOM 17.10.2020
THE BIG C
90 Prozent des Aufwands beim Schreiben besteht allein darin, Dinge auszublenden, die einen gedanklich beschäftigen.
Die restlichen 10 Prozent sind Wörter auf Papier, die irgendwie zusammenhängen und einem manchmal ein okayes Gefühl
geben, denn sonst würde man diesen Aufwand gar nicht erst betreiben. Im folgenden ein Auszug aus der Gemengelage
dieser 90 Prozent:

Auf meinen handschriftlichen Müllseiten (also die Seiten, die ich als irrelevant erachte und die ich hier deshalb
auch nicht zu Wort kommen lasse) steht viel über Corona. Ich habe gemerkt, dass ich an nichts anderes denken kann,
wenn ich anfange, über die Pandemie nachzudenken. Diese Woche wurde ich von Studierenden der Uni Helsinki in einem
Zoom-Meeting gefragt, welchen Club in Berlin ich empfehlen würde. Viele Orte, die ich abends aufsuchte, mussten wegen
bestimmter Bauprojekte schließen. Schon vor den C-Zeiten wurde es mit Clubkultur eng, und C verschärft die gesamte
Situation. Der Stadt wird das genommen, wofür sie sich immer brüsten konnte - selbst, wenn ich am Ende keine große
Ausgeherin bin, weil ich meine Ruhe brauche, es tut mir enorm leid, für alle Beteiligten, für die Musiker, Musiker,
Veranstalter. Dass alle nicht von jetzt auf gleich voll motiviert neue Konzepte ausarbeiten, ist voll verständlich!
C macht matt, platt, blockiert. Kreativ und originell zu sein ist in C-Zeiten mit noch mehr Energie verbunden,
eben weil man nicht weiß, was der Aufwand am Ende Wert war. Das betrifft auch das Schreiben. Schon vor C empfand ich
es schwierig, gewisse Distributionswege zu finden. Mein Vakant Verlag diente
mir lange Zeit als Experiment, zur positiven Umkehrung schlechter Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb.Denn im Vakant Verlag
war noch alles möglich, die Verlegerin las den Autoren und Autorinnen deren Wünsche von den Augen ab, das Überleben abwegiger
Ideen war möglich, schüchterne Autoren, die keinen WErt auf social media legten, wurden unterstützt.
Doch gerade wird es für mich wirklich schwierig, bei Laune zu bleiben. Ich muss mir etwas Neues überlegen, mehr Introspektive.
Die Studierenden haben mich auch gefragt, was mein liebster Ort in Berlin ist. Hab die Frage ganz klar mit "Stabi",
also Staatsbibliothek, beantwortet. Doch auch hier hat sich natürlich während C einiges verändert. Plätze kann man
für eine von zwei Schichten am Tag buchen, dies ist nur möglich, wenn du um Punkt 9 Uhr eingeloggt bist und deinen
Platz für die Folgewoche buchst. Innerhalb von zwei Minuten sind die 230 Plätze auch schon ausgebucht. Ich krieg das
hin, weil ich mir eine Uhr stelle oder meinen Mitbewohner bitte, mit daran zu denken. Man muss halt "auf Zack" sein.
So war das in Berlin leider schon vor C. Aber mit dem blöden C schauen einfach zu viele Menschen, die nicht immer
"auf Zack" sind, in die Röhre. Und das ist auf andere Arbeits- und Lebensbereiche zu übertragen! Ich sorge mich um die
Zeit, die da kommt, wenn ich wieder in Berlin bin. Das habe ich den Studierenden nicht gesagt, und darum sollte es in dem
Gespräch auch nicht gehen. Ich wollte niemanden in Bezug auf Berlin völlig desillusionieren. Ich habe mir während des
Gesprächs gesagt, dass es ja nur eine Frage der Zeit ist, bis sich alles wieder "eingerenkt" hat. Ich weiß, dass das
naiv nach Weihnachten klingt, aber so bin ich in der Lage, auf öffentlichen Veranstaltungen viel zu lachen.
Die Reaktion der meisten anwesenden Studierenden konnte ich leider nicht sehen, weil sie ihre Kamera nicht angeschaltet
hatten. Das ist auch ok, kann ich sehr gut nachvollziehen, das mache ich das nächste Mal auch einfach mal so :)

Schreiben - anders als reden - ist immer auch ein Schutzschild gegen die Außenwelt. Obwohl mir gerade alles ungewiss
erscheint, bin ich mir sicher, dass ich anders denke, wenn ich in die Arbeit an den dritten Roman abgetaucht bin, die
Findungsphase mit Notizen und Ideen gestaltet sich als unangenehm spannender Eiertanz. Mein zweiter Roman liegt derweil
wie ein roher Riese versteckt in einer Datei in einem Ordner auf meiner Festplatte. Er atmet ruhig und leise, und ich
hoffe, er hält zumindest so lange aus, bis sich die offizielle Literaturstelle dazu äußert. Ich selbst kann ihn gerade
nicht künstlich am Leben halten, ich weiß aber, dass er da ist und länger bleiben wird.



TAGESSCHAUM VOM 18.10.2020
Kaukajärvi und über das Spazierradeln
Seit zwei Wochen bin ich echte Kaukajärvierin, das bedeutet: Wenn sich irgendwer irgendwie abwertend zu meinem Kiez
äußert, koche ich innerlich. Eine Bekannte meinte letztens, Kaukajärvi sei ja nicht Tampere. Na, da warten wir mal
die nächsten fünfzehn Jahre ab, wenn sich die Innenstadtbewohner die Finger nach ruhigen Häusern am Stadtrand lecken.
Innenstädte weiten sich aus. Warte zwar nach wie vor auf den Spandau- und Hellersdorf-Hype in Berlin! Doch er wird kommen,
dessen bin ich mir ganz sicher.
Von Kaukajärvi in die Innenstadt brauche ich mit dem Rad etwa vierzig Minuten, die beste Strecke dorthin verläuft durch
den Stadtteil Nekala. Es hat jedes Mal etwas Feierliches, wenn ich Nekala erreiche, die Häuser begrüßen mich wie bunte
Lampions.

Weil es hier innerhalb von wenigen Tage richtig kalt geworden ist und ich selbst im Haus etwas friere, was ich mit dem
regelmäßigen Verzehr von salmiakgefüllten Schokoladentafeln zu kompensieren versuche, fahre ich nur noch Rad, wenn ich
ein klares Ziel vor Augen habe. Also nicht mehr „zum Spaß“ und büxe nicht mehr aus. Ich könnte Busfahren, aber ich fürchte
zu lange Wartezeiten an Haltestellten.

Seit ich Vappu kenne, die mir über ihre Fahrradforschung erzählt hat, denke ich mehr darüber nach, weshalb ich welche
Routen mit dem Rad nehmen. In Berlin fahre ich nicht ohne ein klares Ziel vor Augen. Beim Spazierengehen dagegen ist mir
das Ziellose, das Herumschlendern, das Umherstreifen - in städtischen Umgebungen als Flanieren bekannt – vertraut.
Beim Radfahren in der Stadt ist mir dieses Schlenderfahren (ich nenne es jetzt einfach mal so) fremd geworden.
Ich nutze das Rad wie andere die S-Bahn, ich kenne unliebsame Ampelanlagen, versuche bestimmte Kreuzungen und Wege zu
vermeiden, auf denen es für mich brenzlig werden könnte. Manchmal weiche ich auf den Bürgersteig aus. Das Bedürfnis,
nicht überfahren zu werden, begleitet mich auf allen Fahrradstrecken und trainiert meine Reaktionsfähigkeit von Tag
zu Tag.
Wenn ich auf dem Rad sitze, schaue ich nicht nach rechts und nach links, um die Gegend auf mich wirken zu lassen,
ich will einfach nur ankommen, so schnell wie möglich.
Fahrradwege sind zu Straßen für Fahrradfahrer geworden, die nach vorn schauen. Wenn man zu langsam ist und vor sich
hin träumt, wird man schnell mal angeklingelt und überholt. Vielleicht fahre ich deshalb nicht mehr gern Rad, weil es
ein Mittel zum Zweck geworden ist, weil es stresst und andere Radfahrer teilweise wie kleine Kampfmaschinen auf ihren
Routen durch die Stadt dahinflitzen.

Als Vappu mir von ihrer Forschung mailte, in der sie anhand von Fahrradworkshops das Verhalten unmotorisierter
Verkehrsteilnehmer mit Fokus auf Methoden des derivé, also mit Blick auf Möglichkeiten experimenteller Praktiken
in urbanen Landschaften untersucht, war ich noch in Berlin. Zielloses „Spazierfahren“ auf dem Rad ist für mich in Berlin nicht
mehr vorstellbar. Ganz anders sind meine Erinnerungen an das Jahr 2005, als ich nach Berlin zog, und die weiten Alleen
genoss, die ich mir als Radfahrerin fast geschwisterlich mit ein paar Autos teilte.
Als ich die Gegend in Tampere mit dem Rad letzte Woche erkundete, änderte sich mein Blick. Plötzlich verstand ich Vappus
Vorhaben, ich kann das „Flanierradeln“ besser nachvollziehen und verstehe den Sinn der Untersuchung: Es ist ein
unglaubliches Geschenk, wenn man merkt, dass Ausbüxen - sei es als Spaziergänger oder als Fahrradfahrerin - überhaupt
noch möglich ist und dass es überhaupt noch Raum für experimentelle unmotorisierte Spazierfahrten gibt.
In Tampere ist bei Spaziergängen zweifellos mehr Improvisationsvermögen bei Befolgen von Routen gegeben.
Als Vappu mich mit ihrer Hündin abholte, hatte sie sicher einen vagen Plan für den Weg auf den Hikivuori.
Aber statt dass wir uns auf gefestigten Wegen fortbewegten, nahmen wir viele Strecken durch den Wald.
Natürlich existieren in den Wäldern hier auch „festgetrampelte“ Pfade, die darauf hinweisen, dass die
Menschen sie immer und immer wieder gegangen sind und dass sie sich dienlich erweisen. Doch abgesehen von
diesen Wegen kommt mal als Spaziergänger oft an den Punkt, selbst erfinderisch zu werden, neue Wege zu ergründen.
So sind bei Spaziergängen immer mehr Kombinationsmöglichkeiten möglich. Das führt zu mehr Abwechslung und man lernt
die Gegend jedes Mal neu kennen.
Unten ein Bild von Vappus Hündin Alma, die uns auf unserem Spaziergang auf
den Hikivuori (Schwitzberg) in Haiharan begleitete.

alma


19.10.2020. Kaukajärvi-Sauna. Ich bin viel zu früh aufgewacht, es ist noch sehr früh am Morgen. Draußen fährt irgendeine Maschine herum. Es klingt
wie der Winterdienst, der den ersten Schnee des Jahres von den Straßen entfernt. Ich stelle mir vor, dass es in der kurzen
Nacht so viel geschneit hat, dass ich hier nicht mehr aus dem Haus kann, dass ich bis Sonntag nicht mehr hier raus kann.
Schnee ist leiser als Hagel oder Regen. Bis jetzt habe ich noch nicht rausgeschaut. Ich traue mich nicht, vielleicht liegt
da gar kein Schnee und alles ist so wie gestern.
Ich stehe barfuß in der Küche und toaste zwei Toastbrote, jeden Morgen toaste ich Toastbrote, so riecht es in der Küche
gemütlich nach Geröstetem. Und als sich der Geruch in der Küche breit gemacht hat, wage ich ein Blick aus dem Fenster. Es
hat geschneit! Mehr als nur Raureif hat sich auf die Wiese vor dem Haus gelegt. Bestes Saunawetter, denke ich.
Nach dem Frühstück packe ich zwei große Handtücher und meinen Kulturbeutel in meinen Rucksack und laufe am Kaukajärvi
(also dem See, an dem ich lebe) entlang. Nach ein paar Minuten komme ich zu dieser großen Wasserrutsche, die in den See
hineinragt. Zum Schutz vor der Witterung wurde sie in den letzten Tagen mit Planen umwickelt, Winterpause. 200 Meter weiter
ist auch schon die Holzhütte, vor der ich letzte Woche von weitem halbnackte Menschen auf einer Bank hab sitzen sehen. Dort
muss die Sauna sein. Ein wirklich kleines Häuschen ist das, es gibt niemanden, der an einer Kasse sitzt und auch keine Dose,
in der man eine Spende lassen kann, nur zwei kleine Umkleideräume, einen für Damen, der andere für Herren. Ein mittelaltes
Pärchen hat das Häuschen zeitgleich mit mir erreicht. Und während ich noch meine Handtücher auf dem Bänkchen der Umkleide
sortiere, steht die Frau schon im Bikini da, und ich muss zugeben, dass ich keine Badekleidung dabei habe. Unterwäsche tut es
auch, signalisiert die Frau, und verlässt die Umkleide. Kurz darauf trete ich in mein Handtuch gewickelt vor die Tür. Die Frau
im Bikini klettert gerade über ein Geländer aus dem See, ihr Mann sitzt in Badehose auf dem Bänkchen vor dem Haus, ein Filzhut
auf seinem Kopf. Die Frau setzt sich neben ihn auf die Bank, bei 1 Grad Celsius. Beide schauen mich an.
Wo denn jetzt die Sauna ist, frage ich, und schaue hinter den beiden um die Ecke des Häuschens, ob sich dort noch irgendein
kleiner Raum verbirgt, wo vielleicht eingeheizt wird. Ich friere.
Die Sauna?, der Mann ist etwas irritiert, das hier sei nur ein Schwimmplatz.
Ach so, sage ich, ich kleines Dummerchen. 
[Ich habe die Geschichte übrigens schon einem meiner Mitbewohner erzählt, der mich auf halber Strecke der Erzählung unterbrach
und meinte: „Jaja, du standst da im Handtuch und dann hast Du gemerkt, dass es sich um eine Bushaltestelle handelt.“]

Der Mann auf der Bank zeigt jedenfalls in irgendeine Richtung: die Sauna sei etwa da. An einer anderen Stelle des Kaukajärvi-Ufers
muss sie sein, denke ich, ziehe mich flugs an und laufe am Seeufer entlang. Die Luft ist klar, von der Hauptstraße her höre ich das
Rauschen des Verkehrs, als ich meinen Weg fortsetze. Weit ist es nicht. Nach einer Viertelstunde Fußweg erreiche ich die Sauna. Die
Rezeption erinnert an die Frittenbude in einem Freibad. Ich halte der Frau an der Kasse einen Fünfeuroschein entgegen. Sie fragt, ob
ich schon einmal hier gewesen sei, dort seien die Umkleiden für die Damen, dahinter die Duschen und Saunen. Sie zeigt zu einem Tischchen mit einer großen Thermoskanne, dort könne ich mir Kaffee nehmen. Sehr, sehr freundlich, ich fühle mich gleich wie zu Hause
und laufe in die Damenumkleide.
Es gibt zwei Saunaräume, zwischen denen ich mich zu entscheiden habe. Ich laufe einfach vier älteren Herrschaften in eine Sauna
hinterher, drei alten Männern und einer zarten älteren Dame mit feinen Knitterarmen. Meine Brille beschlägt, als ich die Türe
hinter mir schließe. Die vier tragen Stoffmützen mit kleinen Zipfeln und sitzen auf mitgebrachten Gummimatten oder Holzbrettern.
Die Hitze kriecht in meinen Körper, in den Beinen spüre ich sie am stärksten. Hätte ich nur auch so eine Zipfelmütze. Mein Haare
werden von der Hitze sicher gleich alle abfallen.
Die vier Alten unterhalten sich angeregt, und ich genieße es, dass ich nicht verstehe, worüber sie reden. So kann ich besser über
Dinge nachdenken, wenn das hier gleich nicht noch heißer wird. Als die Frau die dritte Kelle Wasser auf die Steine geschüttet hat,
ist es nicht mehr zu ertragen, das hier ist die Killersauna. Noch bevor die Frau den nächsten Aufguss macht, bin ich auch schon
draußen im Flur, trinke einen Schluck Wasser und öffne die Holztür nach draußen zum See. Über einen langen Steg erreicht man
die Geländer ins Wasser. Ich mache es wie die anderen, muss ja nicht direkt jeder mitkriegen, dass ich nicht von hier bin,
lege mein Handtuch ans Geländer, steige ins Wasser, lasse die Kälte kurz mit der Hitze meines Körpers zusammenprallen, zähle
bis zehn und klettere dann wieder aus dem Wasser.
mt
Ausblick auf den Kaukajärvi, auf Bank sitzend, Saunahaus im Rücken
mt
Bänke zum Verweilen vor Sauna, Liegen oä Schischi gibt es nicht
Kaum jemand macht nach der Abkühlung im See eine Pause, die meisten gehen danach sofort wieder in die Sauna. Ich wickle mich in
mein Handtuch, setze mich auf einen Platz auf die lange Holzbank und schaue ein wenig in die Sonne. Diesmal nehme ich die andere
Sauna, in der ich direkt von einer jungen Frau mit der Kelle in der Hand angequatscht werde. Ich sage, dass ich Saksa bin und sie
fragt mich auf Englisch, ob sie eine weitere Kelle Wasser auf den Ofen werfen darf. Na Klärchen, gebe ich zu verstehen.
Schnell kommen wir ins Gespräch, sie kommt hier zweimal pro Woche hin, wohnt sechs Kilometer entfernt, mit dem Fahrrad sei das
gut zu erreichen, das hier sei die beste Sauna im ganzen Umkreis, doch bei der heißen Sauna nebenan, könne sie nicht mehr
richtig atmen.
Sie kommt ursprünglich aus einer kleineren Stadt im Osten Finnlands, aber Tampere sei ja schon die schönste Stadt und sie ist
froh, ihren Mann hier gefunden zu haben. Als wir nach draußen zum See gehen, erzählt sie mir, dass sie auch schon vier Novellen
geschrieben hat, eher kleine Sachen, die nicht veröffentlicht wurden. Ich frage, ob es nicht vielleicht möglich sei, die beiden
ersten Büchlein zu einem großen zusammenzufassen und merke dann, dass ich in der Unterhaltung mal wieder zu tief ins Detail gehe.
Wie oft ich denn schon im See gewesen sei, fragt sie. Dreimal, antworte ich. Von deutschen Saunas kenne ich es so, dass man
mindestens zehn Minuten drin bleibt und im Anschluss an die Abkühlung erstmal lange ruht. Hier geht es ja eher so um einen
schnellen Wechsel zwischen heiß und kalt, sage ich zu der jungen Frau.
„Yes, I feel so alive“, antwortet sie. Sie hat recht, auch ich fühle mich recht munter.
„Yes, but when it's really hot, you almost feel like dead, you don't think anymore“, sage ich, was aber eher auf meine
Erfahrungen in deutschen Saunas zurückzuführen ist, wo ich manchmal 20 Minuten in so einer heißen Hütte sitze, in der sich
langsam aber sicher meine Sinne, meine Erinnerungen und mein gesamtes Ich verflüchtigen, was eine nicht weniger schlechte
Erfahrung ist.
Nach der letzten Abkühlung soll ich nochmal kurz in die Umkleiden kommen, sie will sich online noch mit mir verknüpfen.
Finde ich gut. Sie heißt Mirka-Maria und zieht ihr Smartphone aus dem Schließfach. Ob ich auch bei Instagram sei, fragt sie.
„Yes. Unfortunately“, antworte ich. Eine Frau in einem blauen Badeanzug und einem dicht bestreuten Sommersprossenrücken hat
die Umkleide betreten, sie lauscht unserer Unterhaltung, während Maria-Mirka mir auf ihrem Smartphone noch ein paar Fotos von
Acrylbildern zeigt, die sie auf Insta hochgeladen hat. Wir verabschieden uns und ich gehe zurück in die Sauna, wo schon die Frau
mit dem blauen Badeanzug sitzt. Auch sie kommt hier zweimal in der Woche hin. Das hier sei aber auch die beste Sauna in der Gegend,
sagt sie, der See habe sehr klares Wasser. Ich muss an Pastel de Nata denken und an die Portugiesen, die mir erzählen, dass es die
besten Pastel de Nata nur in Belém gibt. Durch die holzvertäfelte Wand tönen dumpf die lauten Gespräche der alten Leute aus der
Killersauna. Ob ich denn schon in der anderen Sauna nebenan gewesen sei, fragt mich die Frau. Ja, aber es sei mir etwas zu heiß
gewesen, gebe ich zu. Ja, sagt sie, für sie auch, sie gehe ja schon seit ihrer Kindheit in die Sauna, aber die heißen Saunas seien ihr nie
gut bekommen. Vor fünfzehn Jahren hätte es in Kaukajärvi nur die eine heiße Sauna gegeben. Aber es sei doch interessant,
dass die Älteren die Sauna gut vertragen, als sei es nichts. „They party“, sage ich, als das Gelächter der alten nebenan immer
lauter wird.
„Yes, they know each other and come here every week,“ sagt die Frau.
Saunas sind hier wohl eher Cliquentreffpunkte, ganz anders als in Deutschland, wo man zur Stille angehalten wird.
Sauna ist hier zwar auch Leisure, aber eben kein Luxus oder etwas, das man sich erst verdienen muss. Erholungspausen
werden hier einfach so in den Alltag eingebaut. Quatschen ist erwünscht, Saunas sind Kommunikationsräume, in denen es
eher ungewöhnlich ist, wenn man sich nicht unterhält. Doch ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll. Manchmal
mag ich Smalltalk. Denn oft steht viel mehr dahinter als man zuerst denkt.
Jetzt fällt mir eine Frage ein: Ob sie es von der Sauna weit nach Haus hat?
Nein, antwortet sie. „Just a walk, it's nice.“
Schön! In so vielen Unterhaltungen, die ich hier in Tampere bislang geführt habe, schwingt die Liebe zur Umgebung
mit. Und die Leute haben einfach recht. Nicht bloß der erquickliche Saunagang hat meinen Tag bereichert, auch der
Nachhauseweg, die halbe Stunde durch den Wald am See, ist trotz der Minusgrade mit Freude verbunden.


19.10.2020. Die Mumins im Supermarkt
Zu Hause, brate ich mir erst einmal ein paar Falafel und schreibe eine Einkaufsliste mit Dingen, die ich später noch besorgen muss:
Briefmarken, Zahnpasta, Salmiakschokolade für heute Abend, Mumintee, Muminzahnpasta, Muminkaugummis. Dabei haben Mumins, wie ein Freund
von mir ganz richtig feststellt, doch gar keine Zähne. Na, die Zahnpasta ist ja auch nicht für die Mumins, sondern wird aus Mumins
hergestellt! Wieauchimmer.
Wenn ich durch den Supermarkt gehe, kommt es mir so vor, als ob es von jedem Produkt auch eine Mumin-Version gibt, also eine mit
Muminfiguren dekorierte Verpackung, die zum Kauf verführt.
Obs wohl Mumintampons gibt, oder Muminmama-Schwangerschaftstests oder Muminpapa-Schlaftabletten, frage ich mich. Pirjo, die ich
letzten Samstag im Stadtzentrum getroffen habe, würde vermuten, dass das der Nichte von Tove Jansson, die das Erbe ihrer Tante
verwaltet und auch das Branding kontrolliert, sowas wohl nicht gefallen würde. Schade, ich bin mir sicher, dass Tove Jansson
abseitige Muminprodukte sicher auch lustig fände.

mt
Mumintee


Nachtrag Tagesschaum von Donnerstag, 22.10.2020
Letzte Woche war auch die schöne Lesung mit dem außerordentlich zugewandtem Publikum im  Pukstaavi Büchermuseum in Sastamala,
wo ich aufgrund der tollen Örtlichkeit nach der Führung durch die Dauerausstellung neueste Publikationen aus dem Vakant Verlag
vorgestellt habe. [An dieser Stelle muss ich noch unbedingt erwähnen, dass es mich doch recht glücklich macht, zu sehen, wie intensiv
sich Brigitte Reuter, die meine Lesungen hier moderiert, in jeden Fitzel meines Werks einliest und hineindenkt.
Das ist nicht selbstverständlich!

Aus einer kleinen Textvorlage, ein paar Notizen und einer Autorenbiografie, welche mir Pirjo Rantanen zukommen ließ, habe
ich halt folgendes Werk zusammengeschustert, für das Pirjo folgenden tollen Titel gefunden hat: Als meine Mutter die Berliner Mauer bewegte.
Ich bin mit dem Cover nicht zu 100% zufrieden, ich hab mir wohl etwas zu viel Stress gemacht, und hatte nicht alle Stifte vor Ort,
mit denen ich sonst noch arbeite auch keinen Scanner. Aber Pirjos Geschichte ist toll, und ja: es handelt sich bei ihrem Buch um eine
wahre Begebenheit, Pirjo selbst war als Praktikantin im Deutschen Kulturzentrum in Tampere letztes Jahr für den Transport der Mauer
mit verantwortlich.
In Berlin kennen meine Freunde alle schon den Vakant Verlag, umso schöner also, den Verlag hier in Finnland frisch einem neuen Publikum
vorzustellen. Es machte richtig Freude, weil das Publikum interessiert war und sich zwei Zuschauer sich auch als zukünftige Autoren anboten.
Ich hoffe, da wird was draus, das wären schöne „Nachwehen“, gern erarbeite ich die Cover für weitere finnische Publikationen!


RKI-Livestream, 22.10.2020
Während es draußen Blätter wie Schnee regnet, schaue ich den Livestream des Robert-Koch-Instituts. Wieler stellt sich den Fragen
der Presse: Kein Anlass zum Strategiewechsel, sagt er zu einem ntv-Journalisten. Wieler betont, dass bestimmte Gruppen
in keinem Fall von der Gesellschaft ausgeblendet werden sollen, dass es also nicht mehr zur der Abschottung z.B. von älteren
Menschen kommen wird! Der ntv-Journalist scheint ein wenig schwer von Kapé, jetzt stellt er wieder eine Frage zu einer bestimmten
bestimmten Kennzahl von Menschen über 50, da sie ein höheres Risiko haben. Wieler betont, dass es zynisch ist, auf die noch freien
Zahlen an Intensivbetten zu schauen.

Jetzt Fragen von Frau Will von der "Welt", die nach der Trefferquote bei den verstärkten Testungen fragt. Das sei nicht korrekt,
sagt Wieler, wenn man sich die Zahlen anschaut, da waren 9% der Testungen potiv, im März/April. Denn: „Obwohl wir so viel testen
(1 Mio pro Woche), steigt die Anzahl der postiven auch immer mit!“ Es steige auch in allen Altersgruppen! Wieler zählt sich zu den
Jüngeren, er selbst sei 59 [also U60]. Versteckes selbstironisches Witzchen, zum Auflockern des etwas lähmenden Informationsflows.

„Forschung Aktuell“ fragt nach Lockdown. Wo seien Stellschrauben, wo Politik was bewirken kann. Wieler: Verbindliche Einheitlichkeit,
weil wir die menschen da mitnehmen. Zweiter Aspekt. Verbindlichkeit! Bestimmte Obergrenzen müssen definiert und einheitlich sein!
Aus der Kosmo-Studie wiessen wir, dass die Mehrheit in Deutschland nachvollziehen kann und trägt. Wir tragen ja das Virus weiter,
betont Wieler.

(…)
Welche Vertreter welcher Zeitungen was fragen, ist am Interessantesten an dem gesamten Stream. Jede Frage entlarvt eine Richtung,
die Stimmen sind nie frei von Angst. Der rohe Livestream inklusive der Fragen der journalisten ist ein großartiges Kammerspiel, immer
noch angenehmer zu konsumieren als die Rezeptionen desselben in Zeitungen.
Wenn ich in den letzten neun Monaten Artikel über Covid gelesen habe, habe ich mich nur geärgert, vor allem über Texte, die versuchten
soziologische Gegenwartsdiagnosen anzustellen. Da fühlte ich mich bloß an meine eigenen plumpen Gedanken erinnert, die mir selbst zuvor
schon irgendwann mal gekommen waren.
Den Stimmen der Naturwissenschaftler und der Ärzte (Wieler, Drosten) zu lauschen, ist schön einlullend. Doch den Corona-Gott, der einem
sagt, was passiert, wie und wann, gibt es nicht. Wenn man das einmal verstanden hat, geht es eigentlich.
  :)

Corona ist in Tampere kein so großes Thema, klar werden Lehrveranstaltungen an den Universitäten nun auch im kommenden Semester online
stattfinden. Doch ich habe noch niemanden getroffen, der sich von der Situation ernsthaft verletzt zeigt. Hier herrscht noch die mehr
oder weniger sichere Parallelwelt, die aufgrund der günstigen Situation von der US-Amerikanischen Filmindustrie unlängst als idealer
Standort für die Realisation von Produktionen auserkoren wurde. Bei meinem dritten Besuch der Kaukajärvi-Sauna habe ich mich mit einer
Frau darüber unterhalten, sie hatte darüber nicht gelesen, sondern Wagen einer Filmproduktionsfirma in der Nähe des Friedhofs in Kaleva
gesehen. Auf Nachfragen erzählte man ihr, dass dort (also auf dem Friedhof) gerade an der Science Fiction Serie gedreht würde.
Den Stadtteilt Kaleva fand ich übrigens sehr interessant. Hier zeichnet sich an einigen Stellen der Marzahner Plattenbaucharme ab.
Wenn man bedenkt, dass es finnische Architekten waren, die in Berlin für die Entwürfe der Neubauten beauftragt wurden, nicht verwunderlich.

Giacomo, den ich nächste Woche in Helsinki treffen werde, schrieb mir heute morgen u.a. folgendes:
I was also thinking how privileged you are: you are alone in a foreign country with saunas and nice people, it looks great! well done!
Er hat so recht! Genau das denke ich auch! Es ist deshalb auch unerträglich, wenn ich von deutsche Autor*innen, die sich gerade
im Ausland auf Residenzen befinden, lese, sie würden sich gerade im "Exil" befinden. Natürlich ist Doitschland nicht das Traumland,
und ich kokettiere auch immer gern mit einer gewissen Deutschfeindlichkeit, aber diese Autoren gingen doch aus freien Stücken ins
Ausland und genießen dort alle Privilegien.
Doch die Gewissheit darüber, dass ich - einmal zurück in Berlin - die nächste Monate, wenn nicht Jahre! - nicht nach Tampere
reisen kann, reibt sich mit dem gesamten Interesse und der Neugierde, mit der ich durch die Stadt laufe.
Es ist nicht dies Phase des milden Abschiednehmens, den man von letzten Tagen von Urlauben kennt. Dass ich hier vorerst
gar nicht auftauchen werde, wenn ich in keinem Arbeitsverhältnis stehe, ist für mich gerade kaum zu fassen. Man ist zu
stark daran gewöhnt, dass man Orte, die man einmal besucht hat, wieder besuchen kann. Wenn man einmal an einem Ort war,
dann "gehört" einem dieser Ort - oder zumindest die Erinnerungen an diesen.
In zwei Wochen wird mir Tampere wie ein riesiger Lolli erscheinen, an dem ich vier Wochen lang gelutscht habe, aber
noch nicht zu dessen Kern hervorgedrungen bin, und den ich wohl erstmal nicht wieder sehen werde. 

Wenn mir Leute über Tampere berichten, darüber, was die Pläne sind für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt in ein paar Jahren,
dann werden meine Ohren ganz groß. Ich empfinde diese Neugier fast als Voyeurismus. In so wenigen anderen Bereichen können
Entwicklungen vorausgeplant werden wie in städtebaulichen Zusammenhängen.
Aber an Orte, an denen ich schon einmal war, reise ich gern nochmal ein zweites Mal.
Ich könnte Tamperes Entwicklungen aus der Ferne aus beobachten, aber es ist mit einem anderen Gefühl verbunden als mit dem Wissen
darum, dass ich die Stadt jederzeit besuchen kann. Ich fürchte mich davor, dass meine Neugier womöglich schwindet.


Beim Finanzamt, 26.10.2020



Tagesschaum vom 27.10.2020, Hämeenlinna
Nach einem gemeinsamen Abschiedsfrühstück mit den Damen vom DKT im Café Helmi bin ich Dienstag Mittag mit dem Zug nach Hämeenlinna
gefahren. An den Türen jedes Bahnabteils prangten gerahmte Poster, die für Hörbücher warben, darunter ein offenbar aktuelles Buch,
auf dessen Cover ein grünes Hakenkreuz abgebildet war, stilistisch vergleichbar mit einem Logo eines Softwareherstellers, eher
septisch digital als Fraktur. Ich hab das Abteil gewechselt, aber dort hing das Plakat auch.
Als ich dann mein Smartphone anschnippte, öffnete sich die Demoversion für das finnische Spotify – auf dessen Startseite poppte auf:
Na was? Genau! Das Buch mit dem Hakenkreuz. Ein Krimi, wie mir die Leiterin des Goethe-Instituts später in der Woche bei einem
Mittagessen in Helsinki erklären sollte, aber ja: Die Finnen stehen auf sowas, Hakenkreuz sells, die Leute sind wenig sensibilisiert.

Hämeenlinna besucht man eigentlich wegen der Burg, ich steuerte im Regen Richtung Zentrum, vorbei an unzähligen Friseuren, vielleicht
ist Hämeenlinna das Friseurmekka Finnlands, mit jedem Laden wird einem die eigene Unfrisiertheit vor Augen geführt.
Der Regen brach nicht ab, ich fröstelte, auch die Nacht zuvor hatte ich wieder kaum geschlafen. Doch die Vorstellung meine zwar
durchnässte doch immer noch wärmende Wolljacke in der Garderobe eines Burgmuseums abzugeben, erschien mir noch ungemütlicher.
So unternahm ich bloß einen Spaziergang um die Burg herum und fand dann – sehr versteckt – ein trotz seiner Größe eher unscheinbares
altes Gebäude, vielleicht ein entkerntes Kaufhaus, aus dem ich von weitem seltsame bunte Gipsfiguren herausschimmern sah, denen ich
ohne zu zögern gleich entgegenlief. Das ganze entpuppte sich als kühle Kunstgalerie, deren Werke ich zuerst für Ergebnisse eines
VHS-Kurses hielt. Doch die großzügigen Installationen und Gemälde in den hinteren Räumen ließen eher auf Werke von Kunststudenten
schließen. Am besten gefiel mir das Bild, s.u., ich empfand es als tröstlich. Ich bin gern allein, mit jeder neuen Person, die ich
kennenlerne, wächst die Furcht davor, dass sie mir irgendetwas von sich erzählt, was ich nicht hören möchte und was ich trotzdem
dann mit nach Hause nehmen muss. Dass Leute mir persönliche Dinge von sich berichten, ist natürlich ein enormer Vertrauensbeweis,
doch wenn sie es halt versäumen, zurückzufragen, behalte ich die Gespräche als etwas einseitig in Erinnerung, in einem Monolog
verschwindet das Gegenüber zu oft. Das Bild unten dagegen erzählte mir etwas, und ich hatte das Gefühl, dass es sogar zurückschaute
und Interesse an seinem Publikum zeigte.
hamen

In einem der vielen Flomarktläden, die es in jeder finnischen Stadt gibt, habe ich mir dann noch eine neue Maske gekauft und bin
dann wieder nach Tampere zurückgefahren, wo ich abends noch eine Veranstaltung im Laikku besuchte, die ich oben beschreiben werde.


Was ich vermissen werde, heute Abend bin ich wieder in Berlin
Vier Wochen Tampere liegen hinter mir, das in einer Zeit, in der das Reisen kaum möglich ist. Heute Abend werde ich
wieder in Berlin sein, ich freue mich nicht darauf, man teilte mir auch schon mit, dass ich es nicht mögen werde,
ich mochte es schon vor meiner Abreise nicht mehr, und nun hat der Straßenverkehr vor unserer Haustür noch zugenommen,
jetzt fahren alle Menschen in Autos wie in kleinen Kapseln auf den Straßen rum, um sich vor anderen und der Kälte zu
schützen. Unten spontan Listen von Dingen über meine Tampere-Zeit. Ich schreibe es schnell und noch vor ORt auf,
damit es heute Abend nicht vielleicht schon wieder weg ist:
Was mich am meisten beeindruckte:
Pispala - hier möchte ich eines Tages sterben, das letzte bewusste Erlebnis (im Idealfall). Während man in die
untergehenden Sonne schaut, die großzüg ihre letzten Strahlen über das rote Herbstlaub legt, milde ableben. Wo
ich beerdigt werde, is egal.

Was ich vermissen werde:
*rosafarbene verschwommene Sonnenuntergänge
*die Kukajärvi-Sauna
*Abkühlen im eisigen See
*die Leute in der Kaukajärvi-Sauna
*Pirjo und Nina
*Schornsteine
*Qualm aus Schornsteinen
*Radio Kasari
*Radio Helmi
*Salmiakschokolade
*die beiden Toastbrote, die ich morgens im Toaster mehrmals toastete, einfach, um in der Küche einen Toastgeruch zu haben
*einsam Billie Callahan hören
*Alleinsein
*mit meinem Sohn telefonieren
*der Duschvorhang, der alle zwei Tage abfiel
*morgendliche Ruhe

Darauf kann ich verzichten :)
*noch mehr Roggenbrot
*schlaflos wach liegen

*immer gleiche langweilige iittala-Tassen
*Der Duschvorhang, der nach nasser Hund riecht
tbc

OSSI SOMMA, 31.10.2020
[kommt noch]

Helsinki, bei Giacomo, Tanja, Joel, Anton und Martta, 27.10.2020
[kommt noch]



Über Setzung, 100 Gedichte von Till Lindemann, 27.10.2020
[kommt noch]



LESUNGEN IN FINNLAND

29.10.2020 Lesung Deutsche Schule Helsinki, Malminkatu 14. Beginn: 10 Uhr.

24.10.2020 Lesung und Gespräch im Kulturzentrum Tahmelan Huvila (Villa, Uramonkatu 9, Tampere. Beginn: 17 Uhr.

22.10.2020 Lesung im Büchermuseum Pukstaavi, Vammala. Moderation: Brigitte Reuter. Beginn: 18 Uhr.

15.10.2020 Online-Lesung mit Studierenden der Universität Helsinki. Beginn: 16.15 Uhr.
Universitätsexterne können sich via Email beim DKT für den Stream registrieren.

14.10.2020 Lesung beim Literaturtreff Tampere, Laikki, Mäkelän kabinetti. Beginn: 17 Uhr.